Filmarchiv

Jahr

Wettbewerb für junges Kino 2013
Casa Daniela De Felice

Hier wohnte die Familie: Ein Haus voller Gegenstände und Erinnerungen wird ausgeräumt. Fein gesponnene Untersuchung des Erinnerns selbst, zart aquarelliert und sparsam animiert.

Casa

Dokumentarfilm
Frankreich
2013
54 Minuten
Untertitel: 
englische
französische

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Marc Faye, Gerald Leroux
Daniela De Felice
Matthieu Chatellier, Daniela De Felice
Alessandro Comodin, Daniela De Felice
Daniela De Felice
Daniela De Felice
Xavier Thibault
Das Haus ist vollgestopft mit Gegenständen, deren materieller Wert sich als gering erweist. Jahre nach dem Tod des Vaters beräumt die Regisseurin mit Mutter und Bruder das Familiendomizil, das einmal sozialen Aufstieg verhieß und in dem nun keiner mehr wohnen möchte. Die Erinnerungen sitzen in Alltagsresten und im Gerümpel zahlloser Kisten voller verstaubter entomologischer Exemplare. In einem ausufernden Sammeldrang hat die Mutter versucht, das Vergehen der Zeit anzuhalten. Und so umkreisen die Zwiegespräche der Familienmitglieder die Vergänglichkeit als großes Thema. Kann man Erinnerungen teilen? Was bleibt von einem Leben, wenn die nächste Generation den Dingen einen anderen Wert beimisst? Wenn die Erinnerungen zerfallen wie die Flügel der Schmetterlinge in den Vitrinen?
De Felice konzentriert sich ganz auf den Prozess des Erinnerns und die Frage, was unser Gedächtnis bewahrt. So geht es nicht um die Gesichter auf den Fotos, sondern um den Vorgang des In-die-Kamera-Haltens, Abfilmens und Kommentierens. Um die Momente des Schweigens, wenn die Kamera noch läuft. Und vor allem um die Gestalt, die unsere Erinnerungen annehmen. Hier sind es von der Regisseurin gezeichnete Tuscheaquarelle. Ganz reduziert und zart, mitunter sparsam animiert, machen sie, was nur Kunst vermag: Sie führt uns in innere Räume, wo unsere Familien weiterleben, wenn alle Artefakte längst Staub geworden sind.

Grit Lemke



Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube Animierter Dokumentarfilm 2013

Wettbewerb für junges Kino 2014
Death of the Serpent God Damien Froidevaux

Abgeschoben aus Paris, findet sich das Großstadtgirl Koumba in einem Dorf im Senegal wieder. Odyssee zwischen verzweifeltem Widerstand und Sich-Fügen mit rebellischer Heldin.

Death of the Serpent God

Dokumentarfilm
Frankreich
2014
91 Minuten
Untertitel: 
englische

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Xavier Pons
Damien Froidevaux
Ian Saboya
Damien Froidevaux
David Jungman
Die Vorgeschichte klingt wie ein bitterböses Märchen und ist doch gängige Praxis in Europa. Im Alter von zwei Jahren kam Koumba mit ihren Eltern aus einem senegalesischen Dorf nach Paris. 18 Jahre lang kannte sie nur die französische Hauptstadt, bis sie nach einem nächtlichen Streit auf der Polizeistation landete und innerhalb von 48 Stunden abgeschoben wurde.
Sie findet sich in jenem von der Welt abgeschnittenen Dorf ihrer Vorfahren wieder, unter Verwandten, die sie nicht kennt. Hier leben noch alte Legenden, in denen Schlangenkönige über das Schicksal der Menschen bestimmen. Der Umbruch ist ein brutaler Schock. Die „weiße Koumba“, wie sie hier – durchaus verächtlich – genannt wird, inzwischen Mutter eines unehelichen Sohnes, sitzt in der Falle. Sie reagiert, wie sie es gewohnt ist: Furchtlos und rebellisch schlägt sie um sich, stellt Forderungen und beschimpft ihre Umgebung – auch den Filmemacher, den sie egoistisch nennt.
So entsteht der Film zunächst eher gegen den verzweifelten Widerstand der Protagonistin. Doch Damien Froidevaux lässt nicht locker, gibt die Widerspenstige nicht auf. Über fünf Jahre kehrt er immer wieder aus Paris nach Senegal zurück und wird damit selbst Teil eines Bewältigungsprozesses. Koumba durchläuft eine faszinierende Persönlichkeitsveränderung und wird schließlich zur Heldin ihrer eigenen Odyssee, während zugleich die Rolle der Kamera immer bewusst bleibt.
Lars Meyer

From My Syrian Room

Dokumentarfilm
Frankreich,
Deutschland,
Libanon,
Syrien
2014
70 Minuten
Untertitel: 
englische

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Nathalie Combe, Heino Deckert, Georges Schoucair, Myriam Sassine, Hazem Alhamwi
Hazem Alhamwi
Sivan
Hazem Alhamwi, Ghassan Katlabi
Florence Jacquet
Hazem Alhamwi
Nuzha Al Nazer, Frédéric Maury
Beklemmung überfällt einen. Die Feder von Hazem Alhamwi kratzt über eine Schwarz-Weiß-Skizze, die eines Hieronymus Bosch würdig wäre. Apokalyptische Motive und zugespitzte Satire sind seine Spezialität und waren die Rettung. In einem Land wie Syrien, wo alles, selbst das Atmen – wie einer bitter kommentiert – kontrolliert wurde, brauchte es Fluchträume. Kunst, die auf Öffentlichkeit verzichtet, kann einer sein. Der Film entstand, als die Proteste im Windschatten des Arabischen Frühlings hoffen ließen, dass sich etwas ändern könnte: endlich aussprechen, was jahrzehntelang unterdrückt war und zu hohen Gefängnisstrafen geführt hätte. In Gesprächen mit Freunden und Verwandten betreibt der Regisseur Ursachenforschung, beginnend mit Kindheitserfahrungen von Propaganda und Personenkult, Anpassung und Angst. Heute, da sich die Ereignisse überschlagen, ist die hohe Zeit der schnellen Medien. Alhamwis differenzierte Töne, assoziative Motive und Ausflüge in die Bilderwelt der Kindheit haben es schwer mitzuhalten in einer Gegenwart, in der Syrien zwischen religiösen und ethnischen Interessen sowie denen des Auslands zerrieben wird. Die Stimmen aus Alhamwis Zimmer hallen nach aus einer Zeit, als Demokratisierung und Freiheit gefordert wurden. Diesen kurzen Moment, als die Opposition sich zu formieren und zu formulieren suchte, hält der Film fest. Die Zeit der Idealisten war kurz bemessen.
Cornelia Klauß

National Diploma

Dokumentarfilm
DR Kongo,
Frankreich
2014
92 Minuten
Untertitel: 
englische
französische

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Marie Balducchi
Dieudo Hamadi
Dieudo Hamadi
Rodolphe Molla
Dieudo Hamadi
Dieudo Hamadi
„Lord, give me a diploma!“ So klingen die nicht gerade stillen Stoßgebete kongolesischer Schüler kurz vor der Abiturprüfung. Statt eines Mercedes Benz wie bei Janis Joplin in der amerikanischen Variante gilt hier also der höhere Schulabschluss als Schlüssel zum Glück. Ihn zu bekommen, grenzt allerdings wirklich an ein Wunder. Denn das Schulsystem ist Teil der institutionalisierten Korruption: Wer die „teachers’ fee“ nicht zahlen kann, der fliegt.
Eine Gruppe von Schülern in Kisangani lässt sich das aber nicht gefallen – unter ihnen Joël, der auch durch tägliches hartes Kistenschleppen auf dem Markt das nötige Geld nicht zusammenkriegt. Sie ergreifen die Initiative und beziehen ein leeres Haus, um sich dort selbstorganisiert und mit „kleinen Tricks“ auf die Prüfung vorzubereiten. Zwei Monate haben sie nur noch Zeit, zwei Monate, in denen sie gemeinsam leben, diskutieren, beten und singen.
Dieudo Hamadi schafft es, mit der Kamera immer mittendrin zu sein und die Gruppendynamik von innen zu zeigen. So erzählt er von der brüchigen Demokratie Kongos nicht mit Resignation, sondern mit einem Hauch von Utopie, die eine direkte demokratische Beteiligung möglich erscheinen lässt, und mit einem explosiven Finale. Wie eine echte Abifeier aussieht, weiß man erst, wenn man diesen Film gesehen hat. Dass die Schüler der Logik des Systems allerdings trotzdem nicht entkommen, verschweigt er keineswegs.
Lars Meyer

Silence Radio

Dokumentarfilm
Belgien,
Frankreich
2012
52 Minuten
Untertitel: 
englische

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Isabelle Mathy, Delphine Schmit, Denis Delcampe
Valéry Rosier
Olivier Vanaschen, Mathieu Cauville
Nicolas Rumpl, Didier Vandewattyne
Valéry Rosier
Arnaud Calvar, Guilhem Donzel
Das Leben ist ein Chanson. Weiß nicht nur Alain Resnais, sondern auch die Betreiber des Bürgerradios „Puisaleine“ in der ländlichen Picardie. Wir sehen größtenteils betagte Herrschaften an den Reglern sitzen, redlich mit dem Computer kämpfen (es ertönt schon mal der falsche Song), Musikwünsche entgegennehmen, Witze erzählen und hysterisch ins Mikro kichern oder esoterische bis handfeste telefonische Lebensberatung („Verlassen Sie das Haus!“) erteilen. Ihre Hörer sitzen in Interieurs, die es bald schon nicht mehr geben wird und die hier soziologisch genau aufgezeichnet sind: zwischen Herzchenkissen, Katzenbildern, Teddys, Kunstblumen, Troddeln und barocken Schnörkeln. Sie sitzen allein auf vollautomatischen Betten, in Räumen, die viel zu groß sind und in denen nur Fotos auf dem Sims an eine Familie erinnern, die es einmal gab. Und sie hören Radio: Das Lied von den weißen Rosen oder von der Liebe, die fünfzig Jahre währte. Zu jedem Song erfahren wir eine Geschichte, von Bombennächten und brennenden Flugzeugen, von der großen Liebe oder dem Kind, das vor den Eltern starb. Und irgendwann beginnen sie zu singen.
Verlust und Einsamkeit ebenso wie ein leiser Humor durchwehen diesen zärtlichen Film, der sich mittels raffinierter Arrangements und einer sinnstiftenden Montage sicher auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und großem Drama bewegt. Ein Film fürs Herz, dessen Bedürfnisse nicht hoch genug zu schätzen sind.

Grit Lemke



Lobende Erwähnung im Wettbewerb für junges Kino 2013

Stop-Over

Dokumentarfilm
Frankreich,
Schweiz
2013
100 Minuten
Untertitel: 
englische

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Heinz Dill, Elisabeth Garbar, Sophie Germain, Olivier Charvet
Kaveh Bakhtiari
Kaveh Bakhtiari
Kaveh Bakhtiari, Charlotte Tourres, Sou Abadi
Was ist ein Mensch ohne Pass? Die Frage, die B. Traven in seinem Romanklassiker „Das Totenschiff“ beschäftigte, ist auch heute von erschreckender Aktualität. Das Totenschiff, das der Regisseur Kaveh Bakhtiari vorfindet, heißt Athen. Hier trifft er zufällig seinen iranischen Cousin Mohsen wieder. Doch während er selbst seit seiner Kindheit einen Schweizer Pass hat, sich frei bewegen und Grenzen passieren kann, ist Mohsen als illegaler Einwanderer gekommen. Drei Monate saß er dafür im Gefängnis. Nun hängt er fest in Athen – wie Tausende, für die Griechenland nur ein „stop-over“ sein sollte. Er wohnt mit anderen „Illegalen“ in einer Wohnung mit verhängten Fenstern. Kaveh beschließt, einzuziehen und ihre Lebensbedingungen zu teilen.
Fast ein Jahr lang begleitet er ihren Alltag, der nur auf den ersten Blick wie ein normales WG-Leben aussieht, im Kern aber geprägt ist durch Angst, Klaustrophobie und Entbehrungen. Die Tage ziehen als Schattenspiel auf dem Vorhang vorüber, während täglich Menschen für ihre Hoffnungen ihr Leben riskieren, sich Schleusern ausliefern oder Jahre auf gefälschte Pässe warten. Der Film registriert unmittelbar, wie die Hoffnungen bröckeln – eine intensive Erfahrung für den Zuschauer, denn zumindest für die Dauer des Filmes lässt auch er sich mit den Protagonisten „einschließen“. Ein mutiger Film, der spürbar macht, was sonst im Schatten der europäischen Krise verborgen bleibt.

Lars Meyer



Ausgezeichnet mit der Talent-Taube im Wettbewerb für junges Kino 2013

Wettbewerb für junges Kino 2013
What a Fuck Am I Doing on This Battlefield Nico Peletier, Julien Fezans

Der Avantgarde-Musiker Matt Elliott in verstörender Klarheit und expressivem Schwarz-Weiß über Gott, die Welt und seine Dämonen. Ein Musikfilm mit präzisem Understatement.

What a Fuck Am I Doing on This Battlefield

Dokumentarfilm
Frankreich
2013
53 Minuten
Untertitel: 
keine

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Nico Peletier, Julien Fezans
Nico Peletier, Julien Fezans
Elliott Matt
Nico Peletier
Nico Peletier, Julien Fezans
Nico Peletier, Julien Fezans
Julien Fezans
Ein in expressivem Schwarz-Weiß gestaltetes Zeugnis mehrerer Begegnungen mit dem Musiker Matt Elliott vor, nach und während einiger Konzerte. Faszinierende Gleichzeitigkeit zwischen absoluter Direktheit und höchster Stilisierung in der Tradition der legendären Gesprächsprotokolle in Andy Warhols „Interview". Ein Musikfilm, gewiss, aber mit präzisem Understatement gegen die Versuchungen arbeitend, sich zur schlichten Verkaufsschleuse eines Produkts zu machen. Matt Elliotts Werke werden gemeinhin zwischen düsterem Folk und melancholisch-elektronischer Avantgarde verortet. Seine Alben heißen dementsprechend „Howling Songs“ oder „The Broken Man“. Mit offensichtlich großem Vertrauen hat sich der Musiker den beiden Filmemachern Julien Fezans und Nico Peltier geöffnet, und so äußert er sich in verstörender Klarheit über Gott und die Welt, die Rolle von (Alb-)Träumen und depressiven Schüben für seine Kreativität, die sympathische Verweigerung des Angry-Young-Man-Habitus im Alltag sowie seinen Hass auf politische Manipulation und Willkür. Übrigens: Das mittlere der drei Kapitel dieses Films trägt den anspielungsreichen Titel „The Howl“, der gedankliche Hakenschläge in die Literatur nahelegt. Dass einige Posen und Gesten explizit auf das expressionistische Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch verweisen, kann man mit guten Gründen vermuten.

Ralph Eue