Retrospektive: Un-American Activities

Retrospektive: Un-American Activities

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Eine Illustration eines Paar Cowboystiefeln mit Verzierungen wie Tauben, Sternen und Pfeilen auf rotem Grund.
© Stefan Ibrahim
Über die Retrospektive 2025

Zwischen 1962 und 1989 liefen auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche über 150 Filme aus den USA, die wegen ihrer kritischen Haltung zum eigenen Land aus DDR-Sicht als Repräsentanten eines „anderen Amerika“ galten. Die Retrospektive „Un-American Activities“ lädt zur Wiederentdeckung dieser bislang wenig beachteten Facette der Leipziger Festivalgeschichte ein.

Zusätzlich zum Programm während der Festivalwoche umspannt die Retrospektive auch thematisch konzipierte Filmprogramme vor und nach dem Festival im Luru Kino.

Für Filmgespräche persönlich zu Gast sind in Leipzig Christine Choy, Barbara Kopple, Deborah Shaffer, Allan Siegel und Gordon Quinn. Online-Gespräche führen wir mit Robert Cohen und Jim Klein. Am 31. Oktober laden wir ins Luru-Kino für ein Diskussionsforum mit amerikanischen Gästen der Retrospektive ein, bei dem es um die welt- und filmgeschichtliche Zäsur des Vietnam-Kriegs geht.

Die Filme
schwar weiß fotografie von protestanten die ein banner hoch halten auf dem "National-International Days of Protests" steht
Generation Vietnam Film & Panel

Einer ganzen Generation von US-Amerikaner*innen wurde das militärische Vorgehen ihres Landes in Südostasien Auslöser für ihre Politisierung und Teilnahme an Protesten. In diesem Umfeld entwickelte sich eine Dokumentarfilmarbeit, die Film als argumentative Waffe einsetze.

Dieser Generation widmet DOK Leipzig ein Panel mit Gesprächen, Filmausschnitten und der Wiederaufführung von „Sons and Daughters“, dem Leipziger Goldene-Taube-Gewinner von 1967.

Mit dem Film: Sons and Daughters

Ausgehend von studentischen Protesten gegen den Vietnamkrieg in Berkeley entfaltet sich ein Zeitporträt der US-amerikanischen Gesellschaft und ihres wachsenden politischen Bewusstseins.

Jerry Stoll | USA 1967, 108 min
Digital file courtesy of the UCLA Film & Television Archive

 

 

 

 

Dieser Film wird im DCP-Format gezeigt.

  • Wann: Freitag, 31.10., 10–16 Uhr
  • Wo: Luru Kino
Die Kuratoren

Tobias Hering

Tobias Hering ist freier Filmkurator und Publizist mit einem Schwerpunkt auf thematischen Retrospektiven und Archivprojekten. Zu den Projekten der letzten Jahre gehörten werkbiografische Filmreihen zu Amos Vogel und Jay Leyda sowie mehrere Programme zu Filmbeziehungen zwischen der DDR und den USA, die mit der Retrospektive „Un-American Activities“ fortgesetzt werden.

Tilman Schumacher

Tilman Schumacher ist Filmhistoriker, -kurator und -kritiker. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums, Ko-Kurator des Leipziger GEGENkino Festivals und des Berliner Kinokollektivs Zelluloid42 sowie Redakteur der filmhistorischen Zeitschrift Filmblatt. Sein kuratorischer Fokus liegt auf der deutschen und US-amerikanischen Film- wie Kinogeschichte.

Die Kuratoren über die Retrospektive

Beim ersten Nachdenken erscheint es nicht naheliegend, dass auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche[i] 

vor 1990 Filme aus den USA in nennenswerter Zahl zu sehen waren, geschweige denn dass sie eine bedeutende Rolle gespielt hätten. Uns jedenfalls überraschte der Befund, dass nach Maßgabe der offiziellen Publikationen zwischen 1962 und 1989 über 150 US-amerikanische Filme gezeigt wurden und dass es ab 1962 keinen einzigen Festivaljahrgang gab, in dem das führende Land des „imperialistischen“ Westens fehlte. In den 1970ern und 1980ern waren in Leipzig im Durchschnitt sechs zeitgenössische US-Produktionen zu sehen, in manchen Jahren mehr als zehn. Einige erhielten Hauptpreise, und mehrfach wurden amerikanische Preisträger*innen anschließend in die Internationale Jury berufen.[ii]

Was waren das für Filme, welches Amerikabild vermittelten sie, und was trieb diejenigen an, die sie machten? So selektiv die Auswahl in Leipzig zweifellos war, erzählt sie doch eine verblüffend reichhaltige Geschichte des unabhängigen politischen Dokumentarfilms der USA.

Neben relativ bekannten Namen – Leo Hurwitz, Richard Leacock, Lionel Rogosin, Emile de Antonio, Barbara Kopple, Michael Moore – stießen wir in den Leipziger Programmen und Preislisten auch auf Mehrfachnennungen (uns) weniger geläufige Dokumentarist*innen wie Robert Cohen, Jerry Stoll, Julia Reichert, Jim Klein, Glenn Silber, Deborah Shaffer oder Marc Weiss.

Welchen Eindruck hinterließen die Begegnungen mit ihren Filmen, die doch ein Amerika vorstellten, das sich mit einem platten Feindbild USA nicht vereinbaren ließ. Aber gab es dieses platte Feindbild in der DDR jenseits offizieller Sprachregelungen überhaupt? Rebellische Filme aus den USA bestätigten doch den positiven Nimbus der Freiheit und Progressivität, für den Amerika ebenso stand und der die Alltags- und Jugendkultur im sozialistischen Deutschland kaum weniger prägte als anderswo. Wenn Filme vom wachsenden Widerstand der Unterdrückten und Deklassierten handelten, so gaben sie der kulturpolitischen Maxime der DDR Recht, dass innerhalb der „imperialistischen“ USA noch ein „anderes Amerika“ existiere, das man als politisch Verbündeten betrachten konnte.

Erinnert sei an die enorme Popularität prominenter Repräsentant*innen dieses „anderen Amerika“ in der DDR, aus der das SED-Regime innen- wie außenpolitischen Profit zu schlagen wusste. Die demonstrative Solidarität mit Paul und Eslanda Robeson, Angela Davis, Ben Chavis und anderen Vertreter*innen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung ergab im Verbund mit dem öffentlichen Auftreten der Partei- und Staatsführung gegen das Apartheidregime in Südafrika und den US-Interventionismus in Lateinamerika und Vietnam ein zumindest nach außen hin schlüssiges Profil.

Mit ihrer Teilnahme an der Leipziger Dokumentarfilmwoche verbanden US-amerikanische Filmemacher*innen jedoch auch eigene Motivationen. Das Festival war eine internationale Bühne, auf der ihre Filme eine Beachtung und Anerkennung fanden, die ihnen im eigenen Land meist nur kleine interessierte Kreise entgegenbrachten.

Darüber hinaus ließen sich manche Beiträge durchaus als kritische Interventionen gegen die tendenziell selbstgefällige Weltsicht verstehen, die damals in Leipzig vorgegeben wurde. Wenn sie etwa die Arroganz der Macht anprangerten, von Gefängnisrevolten berichteten oder an uneingelöste Fortschrittshoffnungen gemahnten, rührten diese Filme auch an neuralgische Punkte des SED-Staates. Ein solches Überschwappen wiederum war von einigen Entscheidungsträger*innen in Leipzig wohl sogar erwünscht und gewollt. Auf keiner Seite und zu keiner Zeit lagen die Dinge eindeutig.

Unsere Recherchen ließen frühzeitig erkennen, dass die Entdeckungen auf dem gewählten zeit- und filmgeschichtlichen Terrain viel ergiebiger würden, als wir vermutet hatten. So entstand die Idee, die DOK-Leipzig-Retrospektive 2025 über den zeitlichen Rahmen des Festivals hinaus zu verlängern. Vor, während und nach der Festivalwoche werden im Luru Kino in der Spinnerei, einem Programmkino im Leipziger Westen, thematisch konzipierte Teile der Retrospektive gezeigt.

Zum Auftakt präsentieren wir dort eine kleine Werkschau eines der wichtigsten Protagonisten in den Filmbeziehungen zwischen der DDR und den USA: Emile de Antonio, der als Filmrebell im „Cold War America“ eine lebende Legende war, dessen Filme aber heute nur selten zu sehen sind. Als Kontrast zum als Einzelkämpfer wahrgenommenen de Antonio stellen wir im Luru – nach der Festivalwoche – zwei Filmkollektive vor: das Newsreel Collective, aus dem Mitte der 1970er Jahre die bis heute existierende Plattform Third World Newsreel hervorging, und Kartemquin Films aus Chicago, ein Produktionskollektiv, dessen Wurzeln bis in die 1960er Jahre zurückreichen und das ebenfalls noch aktiv ist.

In der Festivalwoche selbst spannen wir einen Bogen von den 1960ern bis in die 1980er Jahre. Im Innenstadtkino CineStar falten wir das thematisch und kinematografisch breite Spektrum auf, das Filme aus den USA in Leipzig einbrachten: Widerstand gegen die antikommunistische Paranoia der McCarthy-Ära, das Trauma des Vietnamkriegs, der Kampf gegen Rassismus und White-Supremacy-Hybris, Arbeitskämpfe und Streikbewegungen sowie eine in der neokonservativen Reagan-Ära als dringlich empfundene linke (und oft auch feministische) Geschichtsschreibung der USA, bei der Filme über die 1920er und 1930er Jahre entstanden, die auch heute noch – oder gerade jetzt wieder – bedrängend aktuell erscheinen.

Dies gilt nolens volens für die gesamte Retrospektive, die in Dialog mit einer gegenwärtig immens polarisierenden US-amerikanischen Innen- wie Außenpolitik tritt. Gegen den amerikanischen Suprematismus und Donald Trumps salonfähig werdende Politik der Verachtung formuliert sich innerhalb und außerhalb der USA Widerstand – „Un-American Activities“ erinnert an historische Vorläufer solcher Proteste

Wie aktuell und stellenweise schmerzhaft akut die Filme dieser Retrospektive sein würden, war zunächst kaum absehbar. Spätestens jedoch, als wir mit Protagonist*innen dieses „anderen“ amerikanischen Kinos Kontakt aufnahmen, wurde klar, dass gerade jetzt demokratische und humanistische Werte auf dem Spiel stehen oder krachend über Bord geworfen werden, für die sie mit ihrer Filmarbeit einst Partei ergriffen. Für Filmgespräche persönlich zu Gast sind in Leipzig Christine Choy, Barbara Kopple, Deborah Shaffer, Allan Siegel und Gordon Quinn. Online-Gespräche führen wir mit Robert Cohen und Jim Klein. Außerdem nutzen wir das Luru Kino für ein Diskussionsforum mit amerikanischen Gästen der Retrospektive, bei dem es um die welt- und filmgeschichtliche Zäsur des Vietnamkriegs geht.

Eine Rezeptionsgeschichte des linken amerikanischen Dokumentarfilms aus Leipziger Perspektive wäre erst noch zu schreiben. Vielleicht wird mit diesen Wiederbegegnungen ein Anfang gemacht.

Tobias Hering, Tilman Schumacher

[i] Vom Gründungsjahr 1955 bis zum Ende der DDR 1989 führte das Leipziger Festival unterschiedliche Eigenbezeichnungen. Im Betrachtungszeitraum dieser Retrospektive hieß es „Internationale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche“, ab 1968 erweitert durch den Zusatz „für Kino und Fernsehen“.

[ii]Nicht mitgerechnet sind in diesen Zahlenspielen die US-amerikanischen Filmografien gewidmeten Retrospektiven, mit denen in Leipzig bedeutende Wegmarken gesetzt wurden: „Robert Flaherty“ (1964) und „American Social Documentary“ (1981). Die Retrospektive „Un-American Activities“ legt den Schwerpunkt auf Filme, die in Leipzig als aktuelle Produktionen im Wettbewerb oder in den sogenannten Informationsprogrammen zur Aufführung kamen.

Die Retrospektive wird gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Dieses Jahr findet die Retrospektive in Kooperation mit dem Luru Kino statt. DOK Leipzig dankt dem Sächsischen Staatsarchiv und der DEFA Stiftung für die Unterstützung in der Umsetzung der Matineen.

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