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Jahr

Filmstill 30 Kilometres per Second
Filmstill 30 Kilometres per Second

30 Kilometres per Second

30 kilometriä sekunnissa
Jani Peltonen
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Finnland
2023
23 Minuten
Englisch,
Finnisch
Untertitel: 
Englisch

Die Erzählerin des Films hat von ihrer Physiotherapeutin die Diagnose einer gestörten Propriozeption erhalten: Ihr fehlt ein normales Bewusstsein ihres Körpers im Raum und damit ein Bezug zur Welt um sie herum. Als Therapie könnte Tanzen helfen. Stattdessen führt sie eine Geisterfahrt in die TV-Geschichte Finnlands, in die 1960er Jahre, als Verordnungen spontanes Tanzen aufgrund eines mittelalterlichen Dekrets untersagten.

Jugendliche waren ihres Körperbewusstseins beraubt, Finnland, mit seiner eigenartigen Stellung zwischen den Blöcken im Kalten Krieg, stand quasi ungebunden in der politischen Geografie der Zeit. Bezüge ergaben sich über das Fernsehen, Schweizer Kampagnen für die Unabhängigkeit der westafrikanischen Provinz Biafra, die schwerelose Mondlandung, US-amerikanische Stars aus Seifenopern und Westernserien zu Besuch. Reisen, ohne sich zu bewegen. Haben Geister Propriozeption? Würden sie ansonsten nicht aus der Welt schweben? Oder werden sie durch Film- und Fernsehaufzeichnung am Boden gehalten?

Jan Künemund

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Regie
Jani Peltonen
Buch
Jani Peltonen
Kamera
Jani Peltonen
Schnitt
Anni Tiainen, Julia Matinniemi
Produktion
Joona Mielonen
Sound Design
Saku Anttila
Musik
Emil Sana
Sprecher*in
Emmi Parviainen
Ausgezeichnet mit: Silberne Taube Kurzfilm (Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm)
Filmstill An Asian Ghost Story

An Asian Ghost Story

An Asian Ghost Story
Bo Wang
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Hongkong,
Niederlande
2023
37 Minuten
Kantonesisch,
Englisch
Untertitel: 
Englisch

Der leibhaftige Geist einer verstorbenen Echthaar-Spenderin erzählt. In der Nachkriegszeit trug der Export von Echthaar-Perücken zur Wirtschaftsentwicklung Asiens bei, mit Hongkong als bedeutendem Umschlagplatz. In der Blütezeit der 1960er Jahre war „asiatisches Echthaar“ bei wohlhabenden US-Amerikanerinnen beliebt, doch dann erließen die USA ein Embargo für das darauf als „kommunistisches Haar“ kategorisierte Produkt. Hier setzt die ausgefeilte und innovativ umgesetzte Geschichte ein: Ausgehend von komplexen ökonomischen und soziopolitischen Zusammenhängen webt sie den Faden durch historische und traumartig inszenierte Ebenen.

Hongkong war und ist ein Raum des Dazwischen – zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Vielleicht seien deswegen so viele Gespenster in der Stadt, mutmaßt ein Protagonist. So wie der weit gereiste Geist, eine ewig wandelnde Entität und Zeitzeugin einer imperialen und kolonialistischen Vergangenheit.

Annina Wettstein

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Regie
Bo Wang
Buch
Bo Wang
Kamera
Yavuz Selim Isler, Fai Wan
Schnitt
Bo Wang
Produktion
Ruoyao Jane Yao, Jia Zhao
Ton
Franco van der Linde
Sound Design
Jeroen Goeijers
Sprecher*in
Jia Zhao, Hamza Junaid, Tommy Tse
Ausgezeichnet mit: Goldene Taube Kurzfilm (Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm)
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Filmstill At All Hours and None
At All Hours and None Davide Minotti, Valeria Miracapillo
Eine Reise durch Orte und Zeiten, die das Leben der türkischen Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Aslı Erdoğan prägen. Sie schreibt, erst recht im Exil, gegen das Verstummen an.
Filmstill At All Hours and None

At All Hours and None

In tutte le ore e nessuna
Davide Minotti, Valeria Miracapillo
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Italien
2023
19 Minuten
Türkisch,
Französisch,
Italienisch,
Englisch
Untertitel: 
Englisch

„Das Wort ist das einzige Instrument, das ich habe“, sagt Aslı Erdoğan in dieser kraftvollen audiovisuellen Collage. Die in Berlin im Exil lebende Schriftstellerin, Physikerin und Menschenrechtsaktivistin schreibt gegen das Verschwinden und den Verlust ihrer eigenen Sprache an. Nur zu gut weiß sie als ehemalige politische Gefangene in der Türkei, was autokratische Gewalt und Unterdrückung beabsichtigen: Menschen zum Schweigen zu bringen.

Ganz in diesem Sinne stemmt sich das filmische Porträt lautstark gegen das Verstummen. Worte flackern auf zwischen Bruchstücken der Geschichte des Protests in der Türkei. Mit Text, Fotografien und Archivaufnahmen begibt sich der Film auf eine flirrende visuelle und akustische Reise durch Orte und Zeiten, die Aslı Erdoğans heimatloses Leben prägen. In Anlehnung an ihre autobiografische Prosasammlung „Requiem für eine verlorene Stadt“ wird die individuelle Geschichte zu einer kollektiven. Ein vielstimmiger Chor erinnert daran, dass Sprache das ist, was trotzdem alles zusammenhält.

Annina Wettstein

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Regie
Davide Minotti, Valeria Miracapillo
Buch
Aslı Erdoğan
Schnitt
Davide Minotti
Produktion
AAMOD
Ton
Riccardo Spagnol
Sound Design
Valeria Miracapillo
Sprecher*in
Aslı Erdoğan, Deniz Ozdoğan, Alexandra Genzini, Pauline Saudriès
Filmstill Au Revoir, Pugs

Au Revoir, Pugs

Au Revoir, Pugs
Brett Allen Smith
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Italien,
Dänemark
2023
9 Minuten
Englisch
Untertitel: 
Keine

Leicht entrückt, doch friedlich muten die Erinnerungswelten von Brett Allen Smith zunächst an. Da ist ein kleiner Mops – neugierig, fidel und vor allem lebendig, ein harmloser Auskundschafter von Wiesen und Wohnzimmern. Gleichzeitig treibt den Regisseur eine innere Bruchstelle an, eine Irritation, die es über Telefonate mit Familienmitgliedern auszuleuchten gilt: Wie real sind die Erinnerungen, die so gewaltige Spuren in ihm hinterlassen haben? Vor Smiths innerem Augen etwa türmt sich ein Hügel auf, unter dem zwei Hunde begraben liegen. Und es gibt Sonnenblumen, imposante Gewächse, die für seine fünfjährigen Kinderhände nicht zu pflücken sind, weil sich die Wurzeln so tief in den Boden gebohrt haben.

Heute, da der Regisseur selbst Vater und Hundehalter ist – Aufnahmen zeigen ein Baby samt Mops –, verwischt das gedankliche Gerüst, ja, vielleicht sogar etwas Identitätsstiftendes. Die Telefongespräche mit seinen Schwestern führen ins Leere. „Au Revoir, Pugs“ spielt auf visueller Ebene mit Abbildern, Animationen und nostalgischen Effekten, während Melodien von weither erklingen, süßlich und melancholisch, aber auch etwas unheimlich. Eine Verdichtung von nicht einmal zehn Minuten Länge, eine sich behutsam anschleichende Erschütterung.

Carolin Weidner

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Regie
Brett Allen Smith
Kamera
Brett Allen Smith
Schnitt
Brett Allen Smith
Produktion
Andrea Gatopoulos, Brett Allen Smith, Marco Crispano
Animation
Théo Chikhi
Filmstill Beauty and the Lawyer

Beauty and the Lawyer

Beauty and the Lawyer
Hovhannes Ishkhanyan
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Armenien,
Frankreich
2023
105 Minuten
Armenisch
Untertitel: 
deutsche Untertitel für Menschen mit eingeschränkter Hörfähigkeit, Englisch

Am Anfang des Films steht die Heirat von Garik und Hasmik, am Ende ein geschmückter Baum für das erste Weihnachtsfest, das der Sohn der beiden erlebt, im neuen, vom Vater selbst gebauten Haus. Zwischen diesen Fixpunkten einer familialen Bürgerlichkeit ist nichts so heteronormativ, wie es diese Klammer und wie es vor allem der politische und religiöse Mainstream in Armenien erwarten lassen.

Hasmik setzt sich als Anwältin für LGBTQIA+-Rechte ein, ihr Mann ist als Drag-Performer Carabina in den Medien präsent, betreibt Sexarbeit und macht in einer autobiografischen Theaterperformance sein Leben in einem queerphoben Umfeld zum Thema. Der Film, aus freundschaftlicher Nähe entstanden und immer einen Schritt hinter der wilden Energie von Garik/Carabina zurück, wirft einen prekären, rauen, aber auch utopisch gefärbten Blick in aktuelle gesellschaftliche Kämpfe. Normalitätssehnsucht, Emanzipation und Verantwortungsbewusstsein sehen sich – manchmal ohnmächtig und ungeschützt – gewalttätiger Diffamierung ausgesetzt. TV-Bilder zeigen den Eifer, mit dem man versucht, Homosexuelle und trans Menschen als „unarmenisch“ zu konstruieren. Carabina dagegen, in einem Moment der Ruhe, beim Verputzen des Hauses, die Mörtelkelle in der Hand, lässt einen Song von Charles Aznavour laufen, dessen Familie aus Armenien kam – „What Makes a Man?“

Jan Künemund

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Regie
Hovhannes Ishkhanyan
Kamera
Hovhannes Ishkhanyan
Schnitt
Wei-Yuan Song
Produktion
Jean-Marie Gigon
Co-Produktion
Hovhannes Ishkhanyan
Sound Design
Thomas Fourel
-
Hasmik Petrosyan, Garik Amolikyan
Ausgezeichnet mit: Silberne Taube Langfilm (Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm)
Filmstill Deliverance

Deliverance

Descarrego
Joana Claude
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Brasilien
2023
10 Minuten
Portugiesisch (Brasilien)
Untertitel: 
Englisch

Ein wenig ansehnlicher, dunkler, dreigliedriger Kleiderschrank im Flur: An die zehn Jahre sind vergangen, seit Joana Claude beim Aufbau des Möbels sexuelle Gewalt erfahren musste. Jetzt ist nicht nur die Zeit für seine Demontage gekommen. Joana macht sich vielmehr daran, das Artefakt des Schmerzes vollständig zu zerstören. Die Geste geschieht voll Inbrunst, das Herausreißen von Zwischenböden und Türen wirkt wie eine nachträgliche Gegenwehr, Angestautes findet ein Ventil. Dabei ist das Ritual von einer sukzessiven Steigerung geprägt: Spricht die Regisseurin zunächst vom Verhältnis zu ihren Eltern – ein großer Schweißfleck am Rücken zeichnet sich da bereits ab –, steht zum Schluss alles in Flammen. Die Aktion ist kurz, dauert nur wenige Minuten. Und doch ermöglicht sie eine intime Einsicht, die im Vollzug der Handlung einen universellen, Kraft spendenden Charakter erhält.

Carolin Weidner

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Regie
Joana Claude
Buch
Joana Claude
Kamera
Letícia Batista
Schnitt
João Maria
Produktion
Maria Alencar, Joana Claude
Ton
Catharine Pimentel
Sound Design
Nicolau Domingues
Filmstill El Shatt – A Blueprint for Utopia

El Shatt – A Blueprint for Utopia

El Shatt – nacrt za utopiju
Ivan Ramljak
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Kroatien,
Serbien
2023
96 Minuten
Kroatisch,
Arabisch
Untertitel: 
Englisch

El Shatt in Ägypten, mitten in der Wüste, war Zufluchtsort und Projektion zugleich. Hier entstand 1944 aufgrund eines Deals der von Tito angeführten jugoslawischen Partisanen mit britischen Alliierten nicht nur ein Geflüchtetenlager für die Angehörigen der antifaschistischen Kämpfer*innen aus der Region Dalmatien. Hier entstand gleichzeitig auch ein Modell: für die spätere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien – einen Staat, der sein Gründungsnarrativ auf den Volksbefreiungskampf gegen den Faschismus bauen und die in Kollektiven organisierte Selbstverwaltung zum gesellschaftlichen Ideal erklären würde.

Regisseur Ivan Ramljak gewährt uns einen vielschichtigen Einblick in diese längst vergessene, in der Realität durchbuchstabierte kommunistische Ur-Geschichte. Nach akribischer Recherche kombiniert er Hunderte historischer Fotografien und einige (wenige) Filmaufnahmen mit Zeitzeug*innen-Interviews. Die lebhaften Stimmen derer, die in jenen Tagen Kinder waren und heute oft über 80 sind, erzählen aus dem Off: von Überlebenskampf, Solidarität und gelebter Ideologie, von einem Alltag also, zu dem selbstorganisierte Schulen, Werkstätten, Großküchen, sogar eine Zeitung gehörten. Augenzwinkernd nimmt Ramljak den Geschichtsfaden auf und stellt seinem gekonnt geordneten Archivmaterial inszenierte Szenen mit Ensemblemitgliedern eines Theaters zur Seite, das damals in El Shatt gegründet wurde.

Borjana Gaković

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Regie
Ivan Ramljak
Buch
Ivan Ramljak
Kamera
Boris Poljak
Schnitt
Jelena Maksimović
Produktion
Tibor Keser
Co-Produktion
Iva Plemić Divjak, Mladen Kovačević, Sunčica Fradelić
Ton
Miloš Drndarević
Sound Design
Vladimir Živković
Filmvertrieb
Marcella Jelić
Nominiert für: Preis der Interreligiösen Jury, FIPRESCI Preis, MDR-Filmpreis
Filmstill Extended Presences

Extended Presences

Cinzas e nuvens
Margaux Dauby
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Portugal,
Belgien
2023
12 Minuten
Portugiesisch (Portugal)
Untertitel: 
Englisch, deutsche Untertitel für Menschen mit eingeschränkter Hörfähigkeit

Der Blick ist fest auf den Horizont und weit entfernte Baumreihen gerichtet. Er unterscheidet natürliche von Rauchwolken. Saisonarbeit von Frauen in Portugal, hinter den Glasscheiben ihrer Feuerwachttürme observieren sie die Landschaft, das Funkgerät in Greifweite, um Waldbrände sofort nach Entdecken zu melden. Während im Korn des Analogfilms die Grenze des Sichtbaren verschwimmt, erscheinen Dina, Adriana, Ana Paula, Helena, Luisa, Cristina, Dulce, Lídia, Inês, Fátima, Francisca und Vera als Agentinnen der Antizipation, als moderne Seherinnen, deren sanftes, aber beharrliches Schauen über die brennende Welt hinausführt. Ihre männlichen Kollegen überwachen die Lage derweil auf Computerbildschirmen. Poetische Texturen des Wartens und der Wokeness. Der weibliche Weitblick ist geschärft und hat Erwartungen an die noch nicht sichtbare Zukunft.

Jan Künemund

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Regie
Margaux Dauby
Kamera
Margaux Dauby, Afonso Marmelo
Schnitt
Raul Domingues
Produktion
Margaux Dauby
Co-Produktion
Roxanne Gaucherand
Ton
Margaux Dauby
Sound Design
Margaux Dauby, Paulo Lima, Selia Çakir
Filmstill Heaven and Home

Heaven and Home

Heaven and Home
Daniil Lebedev
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Türkei
2023
30 Minuten
Englisch,
Russisch
Untertitel: 
Englisch

Wohl dem, dessen Heimat sein Himmelreich ist. Er muss sich nicht entscheiden zwischen Bleiben und Gehen. Der Filmemacher ist mit Frida, Bob, Katja, Olja, Mischa und Finn gegangen, als seine Heimat Russland die gesamte Ukraine mit ihrem Terror überzog. Auf der türkischen Insel Heybeliada fanden sie ein Stück Himmel. Bald gesellte sich der Maler Yu zu ihnen, der aus China stammt, aber in Russland Kunst studiert hat. „China und Russland sind sehr große Länder“, erklärt ein Insert, „und doch sind wir jetzt hier und teilen uns ein Zimmer in der Türkei.“ „Heaven and Home“ ist die Momentaufnahme eines flüchtigen Exils, eine kluge, melancholische Reflexion über Herkunft, Gemeinschaft und Abschied.

Auf einem der Hügel der Insel weht die türkische Flagge. Wer einen Berg besteigt, hisst die Flagge seines Landes und sagt: Von hierher komme ich. Bei der Schachweltmeisterschaft 1990 traten die Russen Karpow und Kasparow gegeneinander an. Der eine spielte unter der sowjetischen Flagge, der andere unter einer neuen, die für ein demokratisches Russland stand. Heute wird unter dieser Flagge der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt. Bei einem pro-kriegerischen Autokorso in Berlin wehen beide traut vereint, die sowjetische und die russische. Und Kasparow stellt für ein zukünftiges Russland erneut eine Flagge vor, aus der das blutige Rot nun getilgt ist.

Christoph Terhechte

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Regie
Daniil Lebedev
Kamera
Daniil Lebedev
Schnitt
Daniil Lebedev
Produktion
Daniil Lebedev
-
Farida Gasimli
Filmstill I Still Talk to You

I Still Talk to You

Mən hələ də səninlə danışıram
Turkan Huseyn
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Aserbaidschan
2023
15 Minuten
Aserbaidschanisch
Untertitel: 
Englisch

Ein Dichterwort dämpft die hohen Erwartungen an das irdische Leben. Denn der Mensch sei nicht zur Erde entsandt, sondern vielmehr an diesen Ort vertrieben worden. Hier muss man mit Enttäuschungen rechnen. Turkan Huseyn bebildert in „I Still Talk to You“ ein Zwiegespräch mit ihrem Freund. Es handelt von der Liebe und der Sehnsucht, in die Vergangenheit zurückzukehren, von der Kindheit und ihren nicht mehr existenten Koordinaten in Zeit und Raum. Ein melancholischer Dialog, der von kurzen Begegnungen aufgebrochen wird: gestrandet Wirkende, die ebenfalls Auskunft über ihre Sichtweisen und Erfahrungen mit der Liebe geben. Derweil umhüllt die Fische des Kaspischen Meeres eine dünne Schicht Öl, die es lediglich abzuwischen gilt. Früher war es hier weniger verdreckt, meint Turkan Huseyn. Als Kind komme einem alles weniger schmutzig vor, erwidert ihr Freund. Ein lakonisches Zoomen zwischen Innen und Außen, in dessen Zentrum doch einige Eimer voll blutroter Blumen blühen.

Carolin Weidner

Credits DOK Leipzig Logo

Regie
Turkan Huseyn
Kamera
Turkan Huseyn
Produktion
Emil Najafov, Turkan Huseyn
Sound Design
Hafiz Ibrahim
Filmstill Kumva – Which Comes from Silence

Kumva – Which Comes from Silence

Kumva – Ce qui vient du silence
Sarah Mallégol
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Frankreich
2022
108 Minuten
Französisch,
Kinyarwanda
Untertitel: 
Englisch

Ruhig und zurückhaltend begleitet die französische Regisseurin Sarah Mallégol um die dreißigjährige Protagonist*innen, die als Kinder den Völkermord in Ruanda 1994 überlebten. An die Ereignisse von damals können sie sich nicht erinnern – weder diejenigen, deren Väter ermordet wurden, noch die, deren Eltern dafür verantwortlich waren. Eine Auseinandersetzung beginnt: konzentrierte Gespräche zwischen Generationen, die, festgehalten von einer behutsamen Kamera, nun vorsichtig die langjährige Stille brechen sollen – um verstehen, verarbeiten und trauern zu können.

Sarah Mallégol ist selbst in Ruanda aufgewachsen, vor dem Genozid. Auch sie hat keine eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit. Aber es gibt mit Super-8-Kamera aufgenommene Familienvideos, die unbeschwerte Tage in der noch friedlichen Landschaft zeigen – und ihre Nanny von damals, Christine. Sie starb 1994. Mehr weiß die Regisseurin nicht. Ihre Motivation für diese filmische Suche ist also eine persönliche. Doch nach dem kurzen Intro überlässt sie den Raum gänzlich denjenigen, die in Ruanda heute mit dem Trauma leben, das sich wie ein Schleier über das Land gebreitet hat. Die Trauer steht im Vordergrund und die Filmarbeit leistet einen Beitrag zur notwendigen Aufarbeitung – begleitet von Gesängen und Landschaftsaufnahmen, die zusätzlich zu Erinnerungen der Überlebenden eine andere Form von Zeugnis ablegen.

Borjana Gaković

Credits DOK Leipzig Logo

Regie
Sarah Mallégol
Kamera
Arnaud Alain
Schnitt
Marie Beaune
Produktion
Louise Hentgen
Ton
Eugène Safali, Pierre George, Jocelyn Robert
-
Ugo Casabianca
Ausgezeichnet mit: Preis der Interreligiösen Jury
Filmstill Loving in Between

Loving in Between

Loving in Between
Jyoti Mistry
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Österreich,
Südafrika
2023
18 Minuten
Englisch
Untertitel: 
Keine

„Folks, I’m telling you, birthing is hard and dying is mean – so get yourself a little loving in between.“ Der Ratschlag des afroamerikanischen Bürgerrechtlers und Jazzpoeten Langston Hughes ist Jyoti Mistrys Found-Footage-Bildersturm vorangestellt und durchzieht wie ein Leitfaden das Archivmaterial, ein Panoptikum der Lustbarkeiten: Partys, Boxkämpfe, Strandbesuche und vor allen Dingen immer wieder Zeugnisse gelebter queerer Sexualität. Mal klandestin, mal ganz öffentlich.

Die Enthemmtheit ihrer Quellen spiegelt Mistry darin, wie sie sie arrangiert – nicht brav gestaffelt, sondern kühn durchmischt. Der assoziative Schnitt springt oft geradezu in die Bilder hinein, verknüpft sie mit violetten Farbexplosionen und dreidimensional animierten Fischschwärmen. Auf der Tonspur gesellt sich eine Spoken-Word-Performance zu mehrkanalig nachvertonten Geräuschen und zahlreichen Variationen des Jazzstandards „Diga Diga Doo“. So entreißt der Film seine Zeugnisse der Vergangenheit und gibt ihnen die Lebendigkeit und die transgressive Sprengkraft zurück, die sie in sich tragen.

Felix Mende

Credits DOK Leipzig Logo

Regie
Jyoti Mistry
Buch
Jyoti Mistry, Napo Masheane, Kgafela oa Magogodi
Schnitt
Nikki Comninos
Produktion
Florian Schattauer
Sound Design
Peter Cornell
Musik
Nishlyn Ramanna
Animation
The Kinetic
Filmvertrieb
Gerald Weber
Filmstill Lumene : Privatisation

Lumene : Privatisation

Lumene : Privatisation
David Shongo
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
DR Kongo
2022
30 Minuten
Französisch,
Lingála
Untertitel: 
Englisch

In seinem essayistischen Dokumentarfilm setzt sich der kongolesische Künstler David Shongo mit den Problematiken der Wissensproduktion auseinander und stellt die wichtige Frage, wie diese durch kolonialistische Machtherrschaft nachhaltig und systematisch beeinflusst wurde. Durch die Analyse historischer Fotografien enttarnt er die perfiden Mechanismen kolonialer Geschichtsschreibung und stellt sie Gesprächen mit traditionellen Gelehrten gegenüber. Sie vertreten eine ausgebeutete Kultur, die sich nicht nur mit dem Raub ökonomischer Güter konfrontiert sieht. Ihr wurden – auch in einer historischen Dimension – Selbstwahrnehmung und -bestimmung gestohlen.

Den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bildet die Auseinandersetzung mit dem Fotoarchiv des deutschen Ethnografen und Anthropologen Hans Himmelheber im Museum Rietberg in Zürich. Doch Shongos Kritik kolonialer Geschichtsfiktionen – poetisch und akribisch genau zugleich – geht weit darüber hinaus. In der Kombination eigens produzierter und aussagekräftiger Bilder des Kongo von heute mit inszenierten Szenen, einem Off-Kommentar und dokumentarischen Aufnahmen gelingt ihm die Durchdringung äußerst komplexer Zusammenhänge. Ein Filmessay, der die „Privatisierung der Erinnerung“ an den Pranger stellt – und eine längst überfällige, überaus wichtige politische und ästhetische Position zur virulenten Restitutionsdebatte beiträgt.

Borjana Gaković

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Regie
David Shongo
Buch
David Shongo
Kamera
Peter Miyalu
Schnitt
Derek Simba, David Shongo
Produktion
David Shongo
Co-Produktion
Nanina Guyer
Animation
Derek Simba
Filmstill Mamie 44

Mamie 44

Mamie 44
Lucie Dèche
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Frankreich
2023
55 Minuten
Französisch
Untertitel: 
Englisch

Im Weinbetrieb des Vaters im Südwesten Frankreichs gärt ein altes Familiengeheimnis. Der Großvater war 1944 von der Résistance exekutiert worden, er hatte mit den Nazis kollaboriert. Jahrzehntelang wurde nicht darüber gesprochen, der Arbeitsalltag ging weiter, vom Anbau zur Ernte, vom Keltern zur Reifung, ein ewiger Kreislauf. Die Tochter kommt mit einer Kamera und einem Mikrofon zu Besuch. Sie remixt die Geräusche der Landwirtschaft, stellt Fragen, baut im experimentellen Dazwischen von Bildern und Tönen Öffnungen für den Vater, um zu sich zu kommen. Was begraben und untergepflügt ist, kann vielleicht heute reflektiert werden – wenn es für Momente gelingt, aus dem Kreislauf auszubrechen.

Der Vater hat Antworten. Er kennt das patriarchale System der Landwirtschaft, in dem Neid unter Nachbarn herrscht und die unangenehmen Dinge verscharrt werden, um nicht auf die Kinder überzugehen. Trotzdem löst sich das Verscharrte nicht vollständig auf, seit Generationen. Insekten schwirren über der Erde, irgendetwas darunter zieht sie an. Ein kleiner Frosch gerät mit den Trauben in die Presse. Und die Tochter der Filmemacherin sucht nach einer neuen Tonart auf dem alten Familienklavier.

Jan Künemund

Credits DOK Leipzig Logo

Regie
Lucie Dèche
Kamera
Lucie Dèche
Schnitt
Caro Beuret
Produktion
Guillaume Bordier
Sound Design
Lucie Dèche
Nominiert für: Preis der Interreligiösen Jury, FIPRESCI Preis
Filmstill Nowhere Near

Nowhere Near

Nowhere Near
Miko Revereza
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Philippinen
2023
95 Minuten
Philippinisch,
Englisch
Untertitel: 
Englisch, deutsche Untertitel für Menschen mit eingeschränkter Hörfähigkeit

Wie kann sich ein Undokumentierter selber dokumentieren? Eine Frage, die sich der in Los Angeles illegal aufgewachsene philippinische Filmemacher stellt. Seine Großfamilie lebt verstreut in den USA und auf den Philippinen. Nun begibt er sich auf eine Reise in sein entfremdetes Heimatland, angetrieben vom Wunsch nach der Überwindung eines Fluches, der die Familiengeschichte über Generationen hinweg tiefgreifend stört. Die koloniale Vergangenheit lastet bis heute schwer, auch in der Diaspora. Selbst das Filipino, die Amtssprache mit ihren unzähligen Lehnwörtern aus dem Spanischen und Englischen, ist nichts als ein linguistisches Nebenergebnis der Kolonialzeit.

Durch seine Re-Lokalisierung versucht Miko Revereza, die Erfahrungen von Distanz und Identitätsverlust in einem bemerkenswert eigenständigen und kreativen Zugang aufzuarbeiten. Seine psychogeografische filmische Reise ist dicht und mäandernd, die Kamera manchmal buchstäblich wie durch den Fluch destabilisiert. Mittels Einsatz von Bildüberlagerungen und improvisierter Musik entsteht ein melancholisches, jedoch nie anklagendes Memoir, das lange nachhallt. Heute lebt der Filmemacher, der 2021 mit „The Still Side“ bei DOK Leipzig war, in Mexiko.

Annina Wettstein

Credits DOK Leipzig Logo

Regie
Miko Revereza
Buch
Miko Revereza
Kamera
Miko Revereza
Schnitt
Miko Revereza
Produktion
Shireen Seno
Sound Design
Miko Revereza, Kevin T. Allen
Musik
Vincent Yuen Ruiz
Nominiert für: Preis der Interreligiösen Jury, FIPRESCI Preis
Filmstill The Standstill

Stillstand

Stillstand
Nikolaus Geyrhalter
Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2023
Dokumentarfilm
Österreich
2023
137 Minuten
Deutsch
Untertitel: 
Englisch

Am Anfang steht das Bild eines älteren Menschen in einer Klinik, angeschlossen an ein Gerät: Assistenz ist nötig beim langsamen Ein- und Ausatmen. Auf diesen existenziellen Moment körperlicher Gefährdung folgen die für Nikolaus Geyrhalter typischen Totalen, die hier allerdings keine Arbeitsprozesse dokumentieren, sondern wie ein Prequel zu seinem fantastischen Science-Fiction-Dokumentarfilm „Homo Sapiens“ (2016) wirken: menschenleere Flughäfen, Schwimmhallen, Spielplätze.

Der Filmemacher macht sich mit seinem identifizierbaren ästhetischen Instrumentarium an die Dokumentation der ersten drei Covid-19-Pandemie-Wellen, vom März 2020 bis zum Dezember 2021. In Wien, einer Großstadt mit verhältnismäßig gut funktionierendem Gesundheitssystem, blickt er in Institutionen, die sich in einem „flexiblen Lernmodus“ befinden: Intensivstationen, Notquartiere, Schulen, Kinos. Immer wieder besucht er einen Blumenladen, der nicht systemrelevant ist, aber nach eigener Definition Lebensmittel verkauft. Auf Lockdown folgen Lockerungen und wieder Lockdown. Die Kamera registriert, wie die Lähmung im Angesicht einer Naturkatastrophe bei einigen von einer Wut über die Beschränkungen abgelöst wird. Währenddessen werden in den Krankenhäusern Fälle von Long Covid behandelt. Aktuell, nur wenig später, stellen sich diese Bilder quer zur Verdrängung des Erlebten.

Jan Künemund

Credits DOK Leipzig Logo

Regie
Nikolaus Geyrhalter
Kamera
Nikolaus Geyrhalter
Schnitt
Gernot Grassl
Produktion
Nikolaus Geyrhalter, Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer, Markus Glaser
Ton
Sergey Martynyuk, Lenka Mikulova
Sound Design
Nora Czamler, Manuel Meichsner
Filmvertrieb
Andrea Hock
Nominiert für: FIPRESCI Preis, Preis der Interreligiösen Jury