Geheimagent Avi. Avi Mograbi im Gespräch mit Christoph Terhechte

Avi Mograbi und Christoph Terhechte sprechen über gescheiterte und gelungene Filme, über zugewiesene und zugefallene Rollen – und über Moral. Das Gespräch fand am 9. Oktober 2015 in der Akademie der Künste der Welt in Köln statt.
CT: Dein erster abendfüllender Dokumentarfilm „How I Learned to Overcome my Fear and Love Arik Sharon“ war ein Film über einen Filmemacher, der einen Film macht. Das ist ein Genre, in dem schon andere gearbeitet haben, aber du bist in diesem speziellen Subgenre des Dokumentarfilms Weltmeister.
Was genau fasziniert dich an diesem Ansatz? Ich wüsste nicht, wo hier die Fiktion beginnt und wo der Dokumentarfilm endet. Es wird irgendwie alles eins.
Erst einmal gab es kein Konzept dahinter. Es entstand aus der Not heraus. Dann ergab es von einem Film zum anderen einen Sinn und wurde zu einem interessanten Weg, Geschichten zu erzählen oder ihnen einen größeren Rahmen zu geben. Das begann mit How I Learned to Overcome My Fear and Love Arik Sharon. Der Film war ein totaler Fehlschlag. Ich wollte ein hartes politisches Roadmovie machen, das Herrn Scharon während eines Wahlkampfes begleitet – dieser Film scheiterte. Ich hatte gehofft, in dem Monat, in dem ich ihm folgte, die Wahrheit über Herrn Scharon einzufangen. Scharon war natürlich viel zu schlau, um die Wahrheit, nach der ich suchte, ans Licht kommen zu lassen. Also hatte ich am Ende keinen Film. Immerhin verstand ich kurz vor Schluss der Dreharbeiten, dass es da vielleicht noch eine andere Geschichte gab, die Geschichte des Filmemachers, seines Scheiterns und darüber, wie Menschen mit Charisma einen dazu bringen können, die eigene Moral zu vergessen, zu vergessen, was man sagen wollte.
Jahre später habe ich auch verstanden, dass die Geschichte des linken Filmemachers, der seine politische Haltung, seine politischen Motive verliert, auch die Geschichte der israelischen Linken ist. Es war das erste Mal, dass ich mich vor die Kamera stellte und die Geschichte der Entstehung des Films erzählte, wie ich, wie der Filmemacher sein politisches Gewissen und schließlich seine Frau verliert, denn sie bleibt der moralische Rückhalt, und sie verlässt ihn, weil er sein Bewusstsein verloren hat. Damals wusste ich noch nicht, dass daraus ein dauerhafter Erzählstil werden würde. Erst als ich den nächsten Film drehte, dachte ich plötzlich, es war ja schon beim letzten Mal recht erfolgreich, vielleicht kann man dieses Prinzip noch verbessern und komplexer gestalten. So ist Happy Birthday Mr. Mograbi entstanden. Aber die Wahrheit ist, dass ich nach August, dem dritten Film, den ich mit dieser Methode gemacht habe, feststellte, dass ich meiner selbst überdrüssig geworden war.
CT: Daraufhin hast du begonnen, deine Selbstdarstellung zu variieren. In den ersten zwei oder drei Filmen sprichst du direkt in die Kamera, und dann wird es mehr zu einem Dialog wie in dem Kurzfilm „Wait, It’s the Soldiers, I’ll Hang up Now“, in dem du mit Georges Khleifi am Telefon sprichst. In „Once I Entered a Garden“ ist das noch stärker der Fall. Der Film handelt mehr von den anderen als von dir selbst: Ali wird zur Hauptfigur des Films.
In Ost-Jerusalem bemerkte ein Zuschauer scherzhaft, dass Ali den Film gekapert hat, und bezog sich dabei auf die palästinensischen Flugzeugentführungen in den 70er Jahren. Natürlich hat Ali den Film übernommen, aber das wusste ich bereits, als ich beschloss, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich kannte ihn seit dreißig Jahren, es war also keine Überraschung, ich habe mich ganz bewusst in seine Hände begeben. Wir hatten kein Drehbuch, wir hatten nur diesen einen Moment am Anfang, als ich ihm die Bilder meiner Familie zeige. Von da an kam alles ganz spontan in Fluss, wie bei der ersten Begegnung mit Yasmin. Ich wusste, dass Yasmins Präsenz symbolisch wirken und die Thematik unterstützen würde. Aber ich habe sie nicht in den Film gebeten, sie kam von selbst dazu. Ich habe sie nicht in den Film hineinmanipuliert. Sie wollte mitmachen. In meinen ersten drei Filmen war ich wie der Geheimagent Avi. Ich war eine Ein-Mann-Band, die selbst drehte, schnitt und auch im Film spielte. Aber ich habe mich wirklich auch wie ein Geheimagent gefühlt! Wenn mich jemand fragte: „Machst du einen neuen Film?“, habe ich stets gesagt: „Nein, keineswegs!“, auch wenn ich schon halb mit dem Schnitt fertig war. In Avenge But One of My Two Eyes und den folgenden Filmen habe ich mich dann geöffnet und zugelassen, dass andere in den Film einsteigen, eingreifen und führen. Das extremste Beispiel ist Ali mit seiner Persönlichkeit. Aber es gibt noch viele andere Mitwirkende an diesem Film. Einige von ihnen werden nicht genannt, aber du musst wissen, dass die Super-8-Briefe in Beirut gedreht wurden, einem Ort, den ich natürlich nicht bereisen kann, und derjenige, der diese Briefe gedreht hat, hat seine eigenen Entscheidungen getroffen. Ich habe ihn instruiert, aber ich habe ihm nicht gesagt, was er drehen soll. Ich habe ihm die Geschichte meiner Familie erzählt, ich habe ihm die Geschichte des Films erzählt, so gut ich konnte, und er hat selbst entschieden.
Normalerweise würde ich es langweilig finden, drei Minuten lang Blumen zu filmen. Ich würde es nicht wagen. Diese Person hat sich aber anders entschieden. Und dann geschah etwas Erstaunliches mit diesen Briefen: Etwa 95 Prozent dessen, was gedreht wurde, ist im Film zu sehen, was ein noch nie dagewesenes Verhältnis ist, jedenfalls für einen Dokumentarfilm! Auch am Schreiben der Briefe, der Texte, waren viele Menschen beteiligt. Ein jüdisch-libanesischer Freund, der in Paris lebt, hat zahlreiche Geschichten beigesteuert. Ich hätte so etwas nie auf Französisch schreiben können, und schon gar nicht in jüdisch-libanesischem Französisch. Es waren viele Hände beteiligt, was ich mir in der Vergangenheit nicht vorstellen konnte. Meine Arbeit hat sich also sehr verändert. Nimm die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Noam Enbar seit Z32. Da spreche ich nicht in die Kamera, sondern ich singe mit einem achtköpfigen Orchester in meinem Wohnzimmer für die Kamera. Bei diesem Film hatte Noam völlige Freiheit. Er entschied, an welchen Stellen er Musik für nötig hielt, welche Art von Musik und welche Orchestrierung usw. Nicht, dass ich nichts zu sagen gehabt hätte, aber es war eher eine Zusammenarbeit, als dass er einen Job für mich gemacht hätte.
CT: Auch die Ästhetik deiner Filme hat sich von „How I Learned to Overcome My Fear and Love Arik Sharon“ zu „Once I Entered a Garden“ stark verändert.
Dazu gehört natürlich auch Philippe Bellaïche, der Kameramann, mit dem ich gerade meinen vierten Film fertig stelle. In Once I Entered a Garden passiert etwas ganz Besonderes: Es gibt zwei Szenen, in denen er im Bild ist, und ich bin nicht beteiligt. Es ist höchst unüblich, dass der Kameramann in einem Film auftritt und eine Szene übernimmt. Ich habe meine Methodik geändert, mehr Offenheit zugelassen und andere zum Mitmachen animiert.

CT: Deine frühen Filme zeigen in mancher Hinsicht eine hässliche Seite der Gesellschaft. Hast du damals beschlossen, das, was du zeigst, nicht zu ästhetisieren, sondern es absichtlich so rau und hässlich wie möglich darzustellen?
Danke, Christoph, das ist ein großes Kompliment! (Lacht) Erst einmal bin ich ein schrecklicher Kameramann …
CT: Ich meine damit nicht deinen Kamerastil, sondern die Wahl dessen, was du zeigst. In „How I Learned to Overcome My Fear and Love Arik Sharon“ gibt es zum Beispiel diese rechtsgerichtete Musikgruppe am Schluss des Films, und du beschließt, dazu mehr mitzubrüllen als mitzusingen. Ich denke auch an die sehr rohe Gegenüberstellung der Ruinen einer Moschee in einem ehemaligen palästinensischen Dorf und der monströsen Villa, die man gleich danach sieht. Man weiß nicht, wem die Villa gehört, aber die Art und Weise, wie du diese beiden Aufnahmen zusammenstellst, ist sehr drastisch. Das ist etwas, was man in deinen späteren Filmen wie „Once I Entered a Garden“ nicht mehr findet.
Dann stimme ich zu. In meinen ersten drei Filmen – August ist auch ein sehr harter Film – war ich sehr zornig. Auch wenn das alles voller Humor ist, und man sie sich nicht ansehen kann, ohne zu lachen. Sie sind voll schwarzem Humor, wirklich sehr lustig. Ich denke, ich war damit beschäftigt zu erklären, wie ich mich in meinem Heimatland fühle. Am extremsten ist vielleicht August. Es ist ein Film über Auseinandersetzungen auf der Straße. Unwichtige, grundlose Streitigkeiten auf der Straße, nur um des Streits willen. Der Film will Israel durch meine Augen porträtieren. Der Antrieb für diese Filme war eine Menge Wut und Frustration und die Unfähigkeit, etwas zu verändern.
Once I Entered a Garden ist vielleicht der erste Film, der nicht aus Zorn entstanden ist. Auch in Z32 und Avenge But One of My Two Eyes steckt eine Menge Frustration, aber in diesem Film nicht. Er begann anderswo. Er entstand aus Freundschaft, aus Liebe, aus der Sehnsucht nach einer Realität, die ich nie erlebt habe, aus der Offenheit, jemand anderen die Geschichte erzählen zu lassen, im Gegensatz zu früheren Filmen, in denen ich die Geschichten anderer Menschen erzählt habe. Hier erzählt ein anderer Mensch seine Geschichte und natürlich auch meine.
CT: So gelang es dir, die Figur, die du in früheren Filmen gespielt hast, sozusagen den „Inspektor Columbo“ des Filmemachens, hinter dir zu lassen. In den frühen Filmen gab es Momente, in denen du förmlich explodiert bist. In „Avenge But One of My Two Eyes“ schreist du israelische Soldaten an, die palästinensischen Schulkindern nicht erlauben, nach Hause zu gehen. Du wirst vor der Kamera sichtlich wütend. Das wirkt authentisch und nicht wie eine geplante Provokation.
Es ist absolut echte Wut, aber bei vollem Bewusstsein. Ich wusste schließlich, dass ich eine Kamera bei mir trug und dass die Kamera lief.
CT: Aber du hast dir in diesem Moment erlaubt, aus der Rolle zu fallen.
Das passiert uns doch ständig. Wenn wir mit unseren Partnern streiten, ist das immer ein echter Krach, aber zugleich auch eine Art Verhandlung, ein Stück Theater. Aber ja, ich habe Momente, in denen ich meine Manieren verliere, um es vorsichtig auszudrücken. Die Szene am Ende von Avenge But One of My Two Eyes ist für mich wohl die unangenehmste von allen in meinen Filmen, weil ich mich da wirklich hässlich finde.
Das, was ich da gemacht habe, nämlich die Soldaten unflätig anzuschreien, war völlig in Ordnung, es war richtig, das zu tun. Es war moralisch, es war menschlich, aber ich kann die Person nicht ausstehen, die so die Kontrolle verliert, denn das bin ich selbst. Man sieht sich selbst nicht gerne so unschön, auch wenn es aus der richtigen Ecke kommt und so ist, wie Menschen reagieren sollten, wenn sie mit solchen Untaten konfrontiert werden.
CT: Du hast in deinen Dokumentarfilmen mehrfach Spezialeffekte verwendet, obwohl sie normalerweise mit Fiktion in Verbindung gebracht werden. In „August“ spielst du dich selbst, deine Frau und deinen Produzenten, und es gibt eine Splitscreen-Technik, die es dir ermöglicht, alle drei in der gleichen Szene zu spielen. In „Z32“ musstest du die Gesichter der Zeugen manipulieren. Das sieht irgendwie unheimlich aus, ein bisschen wie in Georges Franjus „Augen ohne Gesicht“ …
Diesen Film habe ich tatsächlich in Vorbereitung auf Z32 gesehen, aber ich wollte eine andere Lösung. Ja, das ist ein sehr gruseliger Film.

CT: Die Manipulation der Gesichter verstärkt den Schrecken. Der steckt nicht nur in der Aussage, sondern ist auch visuell präsent. In „Once I Entered a Garden“ hat die Szene auf dem Spielplatz, in der Yasmin dieses scheußliche Schild entdeckt, auch etwas von einem Horrorfilm, der Ort erscheint geradezu gespenstisch. Das Entsetzen in Yasmins Empfinden, wenn sie dorthin geht, wegläuft, zurückkommt und versucht, etwas dagegen zu unternehmen, hat etwas, das man aus Horrorfilmen kennt. Das ist ein weiteres Element des narrativen Kinos in deiner dokumentarischen Arbeit.
Diese Szene ist kein bisschen inszeniert. Der Horror dort – und ich stimme zu, dass es Horror ist – ist das Entsetzen der zehnjährigen Yasmin. Sie führt ein kompliziertes Leben, aber in einem ruhigen Umfeld. Kinder aus gemischten Familien haben in Israel mitunter eine schlimme Kindheit, vor allem weil die jüdische Seite ihre palästinensische Seite nicht akzeptiert.
Yasmins Eltern haben es sehr gut verstanden, ihr Leben vor diesem Schrecken zu beschützen. Aber in dieser Szene steht ihr plötzlich dieses Schild, die Inschrift vor Augen. Ihre ganze zerrissene Identität steckt darin. Sie gehört der Gruppierung an, die das Schild geschrieben hat, aber zugleich ist das Schild auch gegen sie gerichtet. Was kann ein Kind anderes tun, als zu versuchen, es zu entfernen? Das schafft sie natürlich nicht. Das ist eine ganz andere Art von Horror, es ist die Erkenntnis, was ihre Identität ausmacht.
CT: In einer anderen Szene hat Yasmin Angst, entdeckt zu werden, und sie sagt: „Oh nein, die Einheimischen haben uns gesehen!“ Das kommt in deinen Filmen sehr oft vor: Du filmst, die Leute wollen nicht gefilmt werden, du willst nicht mit der Kamera ertappt werden, sie wollen von der Kamera nicht aufgenommen werden. Es ist, als gäbe es auf beiden Seiten eine Art schlechtes Gewissen, auf der Seite der Gefilmten und auf der Seite desjenigen, der filmt. Würdest du sagen, dass das typisch für eine konfliktreiche Gesellschaft ist, oder wie erklärst du dir diese ständige Verhandlung über die Präsenz der Kamera?
Am deutlichsten wird dieser Versuch von Passanten, die der Kamera gegenüber misstrauisch werden, nicht gefilmt zu werden – was natürlich erst recht dazu führt, dass man tatsächlich aufgenommen wird – in August, dem Film über Streitigkeiten auf der Straße. Nicht dass ich jemals geglaubt hätte, dass Israel ein friedlicher Ort ist, an dem die Menschen einander lieben und sich auf der Straße umarmen und an dem Friede, Freude und Eintracht herrschen. Ich wollte keinen neuen „Woodstock“-Film drehen. Ich war auf der Suche nach Gewalt auf der Straße. Aber ich hätte nicht gedacht, dass die Gewalt direkt vor der Kameralinse stattfinden würde. Ich dachte, ich würde sie in der Ferne entdecken und heranzoomen müssen, um sie einzufangen. Denn es gibt in Israel eine Menge Gewalt.
In Happy Birthday Mr. Mograbi, den ich nur zwei Jahre zuvor gedreht hatte, waren die Menschen der Kamera gegenüber noch recht aufgeschlossen. In August musste ich plötzlich feststellen, dass der Kameraapparat für schlechte Nachrichten steht, als ob er von Natur aus ein Medium für – wie du vorhin sagtest – hässliche Momente oder hässliche Szenen ist. Ich glaube nicht, dass die Leute, die sich gegen die Aufnahmen wehrten, meine Filme gesehen oder mich erkannt haben, aber irgendwie wurde die Kamera selbst zum Feind.
CT: Eine der ersten Szenen in „August“ zeigt eine betrunkene Person, die du filmst. Das ist für einen Dokumentarfilmer eine heikle Angelegenheit. Hat man das Recht, jemanden zu filmen, der im Grunde hilflos ist? Auch die Art und Weise, wie du in deinen frühen Filmen agierst, überschreitet gewisse Grenzen. Du scheinst es darauf anzulegen, bestimmte Grenzen zu überschreiten.
Wenn es etwas gibt, bei dem ich es bereue, es gefilmt zu haben, dann ist es der betrunkene Typ oder Junkie auf der Straße in August. Warum habe ich das dann in den Film hineingenommen? Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, was ich da gemacht habe. Es ist unmöglich, es jetzt herauszuschneiden, der Film existiert, das kommt nicht in Frage. Aber jetzt ist es sehr schmerzhaft für mich. Wenn ich mir das ansehe, ist das wie ein Kainsmal, eine Erinnerung daran, dass auch ich in diese Übergriffe verwickelt bin. Das ist etwas, das in August ständig passiert. Man stößt an eine Grenze, und dann überschreitet man sie irgendwann. Das führt mir vor Augen, dass nicht nur die anderen Missbrauch treiben, sondern dass ich selbst ganz gut im Missbrauchen bin.
CT: „Once I Entered a Garden“ beginnt mit Fotos von deinem Vater, die du Ali zeigst. Dein Vater scheint eine Waffe in der Hand zu halten, und man sieht einen Araber, der ein unerklärtes Nummernschild trägt. Diese Bilder beinhalten eine gewaltige Fiktion und du interpretierst sie. Ali wagt nicht einmal, sie zu deuten, er hält sich zurück. Aber diese drei Fotos erzählen eine unglaubliche Geschichte. Wie lange hast du über diese Geschichte nachgedacht? Übersehen wir etwas, wenn wir sie betrachten?
Obwohl ich diese Fotos in meiner Kindheit sicher dutzendmal gesehen habe, hatten sie sich nicht in mein Gedächtnis eingegraben. Ich habe sie etwa ein Jahr vor Beginn der Dreharbeiten zu diesem Film wiederentdeckt, als mich der libanesische Künstler Akram Zaatari – wir wollten zusammen eine Performance machen – zu meiner Mutter schickte, um in ihren Fotoalben zu stöbern. Plötzlich entdeckte ich diese Fotos und war einigermaßen schockiert. Nicht wegen der wirklichen Geschichte dahinter, sondern wegen ihres Nakba-Charakters, auch wenn sie nichts mit der Nakba zu tun haben. Ich bilde mir ein, die Geschichte des Palästinensers auf dem Foto zu kennen. Es gab nach der Gründung des Staates Israel einen Punkt, an dem die Palästinenser, die 1948 geblieben waren, israelische Staatsbürger wurden und Ausweise brauchten. Und so zogen Leute vom „Ministerium für Minderheiten“, wo mein Vater damals arbeitete, los, um Fotos zu machen, und die Nummern sind wahrscheinlich die Ausweisnummern oder Identifikationsnummern für das Archiv.
Ich vermute, dass dies die wahre Geschichte dahinter ist, aber auch das ist eine Fiktion, denn ich weiß es nicht, niemand kann es mir mit Bestimmtheit sagen. Meine Mutter konnte sich damals nicht erinnern, und jetzt erinnert sie sich noch weniger. Normalerweise ist die Nakba, die palästinensische Katastrophe, die Vertreibung und Ermordung der Palästinenser im Jahr 1948, etwas, von dem man zwar weiß, das aber nicht Teil von einem selbst ist. Man sympathisiert vielleicht, und was auch immer man darüber denkt: man sagt, „wir“ haben es getan, aber man selbst hat es nicht wirklich getan, das war jemand anderes. Und plötzlich taucht ein Bild meines Vaters in einer Nakba-ähnlichen Situation auf. Das ist schockierend, für mich ist das ein Schock. Das rückt es so nah an die eigene Haustür. Mein Vater stand politisch sehr weit rechts, ich bin sicher, dass er damit kein Problem hatte. Aber mir ging es so nahe, es war schockierend, das zu entdecken.
CT: Ist der Umstand, dass du sie in deinem Film präsentierst, auch eine Rechtfertigung für die Art und Weise, wie du Filme machst?
Inwiefern?
CT: In dem Sinne, dass du das, was dein Vater getan hat, kompensieren willst mit Filmen, die einen anderen Aspekt der Gesellschaft zeigen.
Meine Filme sind auf eine Art eine Rebellion gegen meinen Vater. Jetzt, wo er schon dreißig Jahre tot ist, bin ich sehr traurig, dass er nie die Gelegenheit hatte, einen meiner Filme zu sehen. Er hat nie ein einziges Bild von einem Film gesehen, den ich gedreht habe. Das ist schade, es wäre sehr spannend gewesen, diese schwierige Beziehung fortzusetzen. Andererseits, wenn er noch lebte, würde ich vielleicht keine Filme drehen. (Lachen) Er war Kinobetreiber, er hätte mir Hausverbot erteilt, mich die Treppe hinuntergeworfen!