Filmarchiv

Wettbewerb für junges Kino 2013
Kalyug Juri Mazumdar

Der uralte Stamm der indischen Bhil im Zeitalter des Niedergangs, des mythischen Kalyug – verursacht durch HIV. Legenden und Gegenwart durchdringen sich in archaischen Bildern.

Kalyug

Dokumentarfilm
Italien
2013
74 Minuten
Untertitel: 
deutsche

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Heidi Gronauer, Lorenzo Paccagnella
Regie
Juri Mazumdar
Kamera
Anke Riester
Schnitt
Giorgio Chiodi
Ton
Gero Hecker
Es waren einmal ein Bruder und seine Schwester, die miteinander in Unzucht lebten. Das war der Beginn des Zeitalters Kalyug, der Epoche des Niedergangs in der hinduistischen Kosmologie. Ist es jetzt wieder angebrochen? Für die Bhil, einen uralten Volksstamm, muss es so aussehen. Nicht nur, dass die moderne Gesellschaft sie dazu verdammt hat, als Wanderarbeiter in Armut und Einsamkeit zu leben. Es grassiert auch eine furchtbare Krankheit: HIV. Ein rationaler Umgang mit Ursachen und Wirkung des Virus fällt vor dem Hintergrund eines traditionellen Volksglaubens und der Hierarchie in den indischen Krankenhäusern schwer. Immerhin kommen jetzt Medikamente zu den Patienten. Ein junger Medizinstudent bringt sie ihnen auf seinem Motorrad endlose Kilometer weit durch die karge, staubige Landschaft. Doch sein Kampf um Aufklärung scheint ein Kampf gegen Windmühlenflügel.
„Kalyug“ fesselt durch seine raffinierte, dialektische Erzählweise, in der alte Legenden und die Geschichten der Gegenwart sich wechselseitig durchdringen. Ohne Brüche leitet der Film von der Rahmenhandlung, einem Geschichtenerzähler am Lagerfeuer, zu drei Binnenhandlungen über, die wiederum in der Art eines Reigens miteinander verbunden sind. Ein Motiv stößt das nächste an. Eingebettet in einen ruhigen Erzählfluss, entfalten die archaischen Bilder eine mythische Wirkung – und bleiben doch der Wirklichkeit des Hier und Jetzt verhaftet.

Lars Meyer
Internationales Programm 2013
Last Call Enrico Cerasuolo

Die Geschichte eines legendären Buches, das die Welt verändern wollte: „Die Grenzen des Wachstums“, der Club of Rome, seine Gründer, und was aus ihnen und ihren Ideen wurde.

Last Call

Dokumentarfilm
Italien
2013
90 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Massimo Arvat, Ingunn Knudsen
Regie
Enrico Cerasuolo
Musik
Gregorio Caporale, Antonio Raspanti, Tommaso Cerasuolo
Kamera
Krister Johnson
Schnitt
Marco Duretti
Animation
Tommaso Cerasuolo, Pietro Luzzati, Tipper
Buch
Enrico Cerasuolo
Ton
Torstein Nodland
Wachstum scheint die Antwort auf alle Herausforderungen unserer Gesellschaft zu sein – glaubt man den Politikern, die uns regieren. Als ob nicht bereits vor 40 Jahren ein Buch mit dem warnenden Titel „Die Grenzen des Wachstums“ mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden und zum Bestseller avanciert wäre. Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler, vereint im „Club of Rome“, hatte deutlich auf die Gefahren des Klimawandels hingewiesen. Was zu tun sei, legten sie offen. Die Autoren des Buches waren jung und optimistisch, aus heutiger Sicht sogar erstaunlich naiv. 40 Jahre später treffen wir sie wieder.
Diverse Krisen und Schocks haben die Menschheit nicht dazu bringen können, vom kurzfristigen zum langfristigen Denken überzugehen. Was sind die Lehren aus der Geschichte? Sind wir lernresistent? Gibt es noch eine Chance, einen „last call“? Die einstigen Gründer des Clubs haben dazu inzwischen unterschiedliche Gedanken entwickelt. Doch eines scheint sicher: Die Optionen, die vor 40 Jahren noch bestanden, gibt es nicht mehr. Der Film verfolgt Entstehung, Rezeption und Verteidigung jenes legendären Buches, das die Welt hätte verändern sollen. Das umfangreiche Archivmaterial, das zum Einsatz kommt, wird stets in die Gegenwart gespiegelt. Und auf den Spuren des „Club of Rome“ fallen immer wieder stimulierende Denkaufgaben ab.

Lars Meyer
Internationales Programm 2013
On the Art of War Luca Bellino, Silvia Luzi

Der lange Kampf italienischer Arbeiter für ihren Betrieb: Besetzung, Streik und zermürbende Bürgerkriegsmanöver. Komplexe Untersuchung zwischen heißer Agitation und kalter Analyse.

On the Art of War

Dokumentarfilm
Italien,
USA
2012
85 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Giovanni Pompili, Margherita Di Paola, Claudia Antonucci
Regie
Luca Bellino, Silvia Luzi
Musik
Nicolò Mulas
Kamera
Vania Tegamelli, Giorgio Carella
Schnitt
Luca Bellino
Buch
Luca Bellino, Silvia Luzi
Ton
Paolo Benvenuti, Stefano Grosso, Marzia Cordò
Am 31. Mai 2008, einem ruhigen und sonnigen Samstag, traf sich die Belegschaft eines Montagewerks für Schwermechanik aus Milano-Lambrate zu einem Picknick. Kaum waren die Stullen ausgepackt, erreichte sie eine kurze Mitteilung des damals aktuellen Besitzers, der das Werk erst 2006 erworben hatte: „Wir haben beschlossen, ab dem 31. Mai 2008 sämtliche Aktivitäten einzustellen.“
Der Film von Luca Bellino und Silvia Luzi macht den langen Kampf der 50 Arbeiter nachvollziehbar. Er begann an jenem Tag mit einer Betriebsbesetzung, führte zur Fortsetzung der Produktion in Eigenregie und mündete nach einer ersten Räumung durch die Polizei in einem unbefristeten Streik vor den Werkstoren, der den klammheimlichen Abtransport der Maschinen verhindern sollte. Am 2. August 2009 griff schließlich ein Großaufgebot der Polizei mit einem Bürgerkriegsmanöver die Streikenden an, woraufhin fünf von ihnen einen Industriekran auf dem Gelände kaperten und über mehrere Wochen besetzt hielten. Die Entschlossenheit der AktivistInnen löste eine breite internationale Unterstützerwelle aus und erregte große mediale Aufmerksamkeit, was schließlich gar zu einer langfristigen Einigung in diesem Konflikt beitrug. Bellino und Luzi gelingt die komplexe filmische Untersuchung eines intensiv gelebten Beispiels anarchosyndikalistischer Theorie und Praxis in Italien, souverän ausbalanciert zwischen heißer Agitation und kalter Analyse.

Ralph Eue

Stop the Pounding Heart

Dokumentarfilm
Belgien,
Italien,
USA
2013
100 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Roberto Minervini
Regie
Roberto Minervini
Kamera
Diego Romero Suarez-Llanos
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Über dem texanischen Himmel explodiert ein Feuerwerk – gefühlte Lichtjahre entfernt von dem idyllischen Ort, an dem die 14-jährige Sara als älteste Tochter einer Großfamilie auf einer Ziegenfarm aufwächst. Dort kümmert sie sich liebevoll um die Tiere und um die Herstellung diverser Milchprodukte, außerdem hilft sie bei der Erziehung ihrer Geschwister, die ebenso wie sie – nach strenger Auslegung der Bibel – zu Hause unterrichtet werden. Nicht weit davon entfernt veranstalten die Cowboys aus der Nachbarschaft Rodeos und zeigen uns ein Amerika, das man längst vergessen glaubte. Leise entwickelt sich Saras innerer Kampf zwischen der subtilen Anziehung zu dem jungen Rodeo-Reiter Colby und einer Zukunft als unterwürfige Ehefrau.
Die große Transparenz, mit welcher hier erzählt wird, findet einen Höhepunkt, als vor Saras Augen ein Kind aus dem Mutterleib schlüpft und sie ganz unmittelbar mit ihrer Bestimmung konfrontiert. Die Kamera „atmet“ unglaublich dicht an den Protagonisten und fängt dabei in zarten Pastelltönen vor allem eben diese innere Zerrissenheit ein. Sie lässt das Herz so heftig schlagen, dass Saras Mutter nur beten kann, es möge endlich mit dem Verrücktspielen aufhören.

Claudia Lehmann



Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm 2013

Deutscher Wettbewerb 2013
The Special Need Carlo Zarotti

Ein junger Mann auf der dringenden Suche nach einer Freundin und dem ersten Sex. „Special“ ist nur, dass er Autist ist. Tragikomisches, humorvolles Roadmovie von großer Leichtigkeit.

The Special Need

Dokumentarfilm
Deutschland,
Italien
2013
84 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Henning Kamm, Erica Barbiani, Fabian Gasmia
Regie
Carlo Zarotti
Musik
Dario Moroldo
Kamera
Julián Elizalde
Schnitt
David Hartmann
Buch
Carlo Zoratti, Cosimo Bizzarri
Ton
Andrea Blasetig
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Altersempfehlung: ab 14 Jahren 
Klassenstufen: 9-13

Themen: Inklusion, Behinderte/Behinderung, Liebe, Erwachsenwerden, Sexualität 
Unterrichtsfächer: Geimschaftskunde/Sozialkunde, Philosophie, Ethik, Politik

 

Zum Inhalt

Enea ist 27, ein junger Mann mit ganz gewöhnlichen Bedürfnissen. Wie so viele andere auch sucht Enea nach der Liebe, will eine Freundin finden, zum Tanzen, zum Küssen und für alles andere auch... Doch Enea fällt es ungewöhnlich schwer, der Einsamkeit zu entfliehen, denn er ist Autist und hat eine sehr direkte Art, sich auszudrücken. Nicht immer sind die Mädchen, die er im Schwimmbad oder auf der Straße anspricht, begeistert über seine Avancen.

Je länger sein Bedürfnis nach Nähe unerfüllt bleibt, desto mehr fixiert sich Enea darauf, er sucht sich Traumfrauen aus Hochglanzzeitschriften aus und stellt sich vor, wie es wäre, sie zu berühren. Und er beobachtet sehnsüchtig seine Freunde Alex und Carlo, denen der Kontakt „mit den Mädchen" viel leichter fällt. Die beiden beschließen, Enea bei der Suche nach der Liebe zu helfen. Gemeinsam machen sie sich in einem alten VW-Bus auf eine Reise, die sie von Italien über Österreich bis nach Deutschland führt. Denn hier gibt es einen Ort, an dem Menschen wie Enea sich im wortwörtlichen Sinn an ihre Sexualität herantasten können.

Sex ist in unserer Gesellschaft so gut wie immer mit (zu) hohen Erwartungen aufgeladen. Es fällt nicht nur Enea schwer, Fantasie von Realität, Sexualität von Liebe abzugrenzen. Der Film behandelt Enea ganz folgerichtig auch nicht als Sonderfall. Mit großer Empathie folgt er seinen Protagonisten auf diesem sommerlichen Männerausflug, der für alle drei zu einer Entdeckungsreise in die Welt der Gefühle wird. Ihre Reise dokumentieren sie mit der Kamera und geben uns damit die Möglichkeit, dabei zu sein, wenn ihnen allen dreien immer klarer wird, dass am Ziel ihrer Fahrt nicht Eneas erstes Mal steht, sondern die Einsicht, dass die Liebe mehr ist als körperliche Nähe.

Ein dokumentarisches Roadmovie, in dem mit großer Natürlichkeit große Themen wie Begehren, Sex, Liebe und Freundschaft thematisiert werden. Trotz aller Ernsthaftigkeit kommt in diesem vielfach preisgekrönten Film, der letztes Jahr mit der Goldenen Taube ausgezeichnet wurde, auch die Komik und Tragik des Menschseins nicht zu kurz.

Enea ist 27, ein junger Mann mit ganz gewöhnlichen Bedürfnissen. Ungewöhnlich ist allerdings seine direkte Art, sie auszudrücken. Wie ein Banner trägt er seine Sehnsucht nach einer Frau vor sich her. Enea ist Autist und kann die Reaktionen der Mädchen, die er auf der Straße anspricht, nicht immer genau deuten. Und dass es nicht gerade die Traumfrau aus der Zeitschrift sein wird, die ihn erhört, ist eine Erfahrung, die noch vor ihm liegt. Da er noch nie Sex hatte, wollen sein Freund Alex und Carlo, Regisseur des Films, ihm helfen. Gemeinsam machen sie sich in einem alten VW-Bus auf die Reise, von Italien über Österreich nach Deutschland. Denn dort gibt es einen Ort, an dem Menschen wie Enea mit einem „special need“ sich im wortwörtlichen Sinn an ihre Sexualität herantasten können. Sex ist in unserer Gesellschaft allgemein mit hohen Erwartungen aufgeladen. Fantasie von Realität, Sexualität von Liebe abzugrenzen, fällt vielen schwer. Der Film behandelt Enea ganz folgerichtig auch nicht als Sonderfall. Mit großer Empathie folgt er seinen Protagonisten auf diesem sommerlichen Männerausflug, der für alle drei zu einer Entdeckungsreise in die Welt der Gefühle wird. Die Kamera in diesem Roadmovie erzeugt eine große Natürlichkeit, während das Gespür für tragikomische Szenen die Leichtigkeit hinzufügt.



Lars Meyer





Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube im Deutschen Wettbewerb Dokumentarfilm 2013


Internationales Programm 2013
The Valley of the Jato Caterina Monzani, Sergio Vega Borrego

Verseuchter Fluss, kaputter Sendemast, Kampf gegen die Mafia – Pino, Kette rauchender Patron eines sizilianischen Lokalsenders, erledigt alles. Turbulentes Plädoyer für unabhängigen Journalismus.

The Valley of the Jato

Dokumentarfilm
Italien,
UK
2012
67 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Caterina Monzani, Sergio Vega Borrego
Regie
Caterina Monzani, Sergio Vega Borrego
Musik
Roger Goula
Kamera
Sergio Vega Borrego
Schnitt
Sergio Vega Borrego
Ton
Zhe Wu
Als Lokaljournalist und Patron muss man alles selber machen: in Fabriken und auf den Straßen mit Menschen sprechen, Namen recherchieren, Kommentare schreiben, auf den „News Chair“ springen und die (zweistündigen!) Nachrichten einsprechen, die Belegschaft anschnauzen, Wasserproben aus dem verseuchten Fluss entnehmen und untersuchen lassen, vom 105. Geburtstag einer Einwohnerin berichten, mit einem kleinen Schraubendreher den Sendemast des Kanals reparieren, die Frau mit einem Kuss bei Laune und den ganzen Betrieb über Wasser halten. Der hagere, schnauzbärtige und stets hektisch Kette rauchende Pino Maniaci ist eine Institution in Partinico, einer Stadt in der Provinz von Palermo auf Sizilien. Mit seiner gesamten Familie betreibt er den örtlichen Fernsehkanal und führt durch schonungslose Offenlegung einen erbitterten Kampf gegen die Mafia, die immer wieder ebenso erbittert zurückschlägt. Alle Hoffnungen der gebeutelten Bevölkerung ruhen auf ihm. Doch ein Gesetz zur Digitalisierung des Fernsehens droht, den kleinen Kanal finanziell in die Knie zu zwingen …
Caterina Monzani und Sergio Vega Borrego erzählen in der turbulenten Art italienischer Komödien von einem modernen Don Quichote im Kampf gegen die Windmühlenflügel von Korruption und Kapitalismus. Vor allem zeigen sie, dass das Sterben des unabhängigen Lokaljournalismus einen unersetzlichen Verlust für die Demokratie bedeutet.

Grit Lemke