Filmarchiv

Exemplary Behaviour

Dokumentarfilm
Bulgarien,
Italien,
Litauen,
Slowenien
2019
85 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Rasa Miškinytė, Martichka Bozhilova, Igor Pediček, Edoardo Fracchia
Regie
Audrius Mickevičius, Nerijus Milerius
Musik
Marjan Šijanec
Kamera
Audrius Kemezys, Valdas Jarutis, Julius Žalnierukynas, Audrius Mickevičius
Schnitt
Ema Konstantinova, Armas Rudaitis
Animation
Rimas Sakalauskas
Buch
Audrius Mickevičius, Georgi Tenev
Ton
Saulius Urbanavičius

Das grässlich entstellte Gesicht seines ermordeten Bruders stellt Audrius Mickevičius an den Beginn seines Films. Er interessiert sich dafür, wie jemand für eine solche Tat büßt. Im Hinblick auf dieses konkrete Verbrechen könnte man meinen: viel zu kurz, denn der Täter kommt schon nach fünf Jahren wieder frei, weil er sich im Gefängnis als mustergültiger Häftling gezeigt hat. Mickevičius bleibt allerdings nicht bei dem individuellen Fall, sondern hebt seinen Film auf eine allgemeinere Ebene: „Exemplary Behaviour“ ist beinahe so etwas wie eine Meditation über die Frage, ob sich in einer zeitlichen Ordnung eine endgültige Tat wie ein Mord sühnen lässt – und ob die verstreichende Zeit es den Hinterbliebenen des Opfers erlaubt zu verzeihen. Am Beispiel zweier Lebenslänglicher (der eine heiratet und wünscht sich Kinder, der andere legt seine ganze Leidenschaft in eine Idee von Kunsthandwerk) und eines Philosophen mit Hafterfahrung (Bernard Stiegler) macht Mickevičius den eigentümlichen Zustand eines suspendierten Lebens nachvollziehbar. Die elegische Grundstimmung wird schließlich noch verstärkt durch die Information, dass Audrius Mickevičius während der Produktion von „Exemplary Behaviour“ erkrankte und starb. Nerijus Milerius besorgte die Fertigstellung. Bert Rebhandl





Ausgezeichnet mit einer Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb Langfilm, mit dem Preis der Interreligiösen Jury und mit dem FIPRESCI Preis.


I Had a Dream

Dokumentarfilm
Frankreich,
Italien
2018
84 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Claudia Tosi, Nathalie Combe
Regie
Claudia Tosi
Musik
Daniele Rossi, Enrico Pasini
Kamera
Claudia Tosi, Andrea Gioacchini
Schnitt
Marco Duretti
Buch
Claudia Tosi
Ton
Diego Schiavo
Zwei Männer flankieren diesen Film: Silvio Berlusconi, der 2008 zum vierten Mal italienischer Ministerpräsident wurde, und Donald Trump, der ein knappes Jahrzehnt später als amerikanischer Präsident vereidigt wurde. Für Manuela, eine Abgeordnete des italienischen Parlaments, und Daniela, eine Lokalpolitikerin, ist dieser dergestalt männlich markierte Zeitraum der Inbegriff für den politischen Regress. Seit Jahren kämpfen die beiden für mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, für bessere Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt gegen Frauen und für ein diverseres Gesamtbild politischer Verantwortungsträger.

Ist die Politik tot? Diese brutale Frage leitet Claudia Tosis Langzeitstudie über die Entwicklungen des letzten italienischen Jahrzehnts an. Mit einem Verlust von 6,7 % der Stimmen unterlagen die Demokraten 2018 deutlich gegen die populistische und europaskeptische Fünf-Sterne-Bewegung. Dass Demokratie, zivilgesellschaftlicher Zusammenhalt und Fortschrittswille noch einmal derart infrage stehen, dass der überwunden geglaubte Berlusconismus noch in einem solchen Ausmaß nachwirkt, hätten Manuela und Daniela nicht für möglich gehalten.

Lukas Stern



Ausgezeichnet mit einer Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb Langfilm, mit dem Preis der Interreligiösen Jury und mit dem FIPRESCI Preis



Lampedusa in Winter

Dokumentarfilm
Italien,
Österreich,
Schweiz
2015
93 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Jakob Brossmann
Regie
Jakob Brossmann
Kamera
Serafin Spitzer, Christian Flatzek
Schnitt
Nela Märki
Mit Einsetzen des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer wurde die winzige italienische Insel Lampedusa zur Projektionsfläche paranoider Fremdenhasser wie zum Symbol einer unmenschlichen Asylpolitik. Im Winter 2014 reist der Theater- und Filmemacher Jakob Brossmann auf die Insel, um zu untersuchen, wie es um das Leben dort wirklich bestellt ist.

Touristen und Medien sind fort und die wirklichen Probleme der Bewohner treten in den Vordergrund: Die alte Fähre, überlebensnotwendig, ist abgebrannt und wurde durch eine noch ältere ersetzt. Deshalb treten die Fischer in den Ausstand. Eine Gruppe von Flüchtlingen, die seit Monaten hier festsitzt, will endlich aufs Festland. Sie streiken vor der Kirche. Weil es keine Fähre gibt, stapelt sich der Müll und die Lebensmittel werden knapp. Mitten in dieser angestrengten Lage kämpfen die Bürgermeisterin und eine engagierte Anwältin aus tiefster persönlicher Überzeugung um menschliche Lösungen.

Brossmanns Blick ist unaufdringlich und genau. Mit sicherer Hand führt der Regisseur durch die Ereignisse dieser Krise, während er uns gleichzeitig Orte und Menschen vorstellt, die mit dem Schicksal der Migranten verbunden sind. Bemerkenswert ist, dass Bewohner und Flüchtlinge sich nicht gegeneinander instrumentalisieren lassen. Beide sind Opfer der gleichen zynischen Politik. Das herauszuarbeiten ist die große Stärke dieses Films.

Matthias Heeder
Internationaler Wettbewerb 2019
Siddhartha Damiano Giacomelli, Lorenzo Raponi

Siddharta und Fabrizio, der eine neun, der andere 65 Jahre alt, sind Kern einer Gemeinschaft, die auf jeglichen zivilisatorischen Komfort verzichtet. Wir sind ihre Gäste – einen Sommer lang.

Siddhartha

Dokumentarfilm
Italien
2019
79 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Eleonora Savi, Damiano Giacomelli
Regie
Damiano Giacomelli, Lorenzo Raponi
Kamera
Damiano Giacomelli, Lorenzo Raponi
Schnitt
Aline Hervé, Enrico Giovannone
Ton
Diego Schiavo
Eine Nuss allein macht kein Geräusch, wenn man sie in seiner Tasche trägt. Viele zusammen aber klappern. So nennt sich die kleine Gemeinschaft, in welcher der neunjährige Siddharta mit seinem 65-jährigen Vater Fabrizio lebt „Noci Sonanti“, die „Klingenden Nüsse“. Ohne Strom und sonstigen zivilisatorischen Komfort bewohnen beide ein Haus inmitten eines abgelegenen italienischen Landstrichs. Hin und wieder finden sich Menschen ein, die für eine Weile Teile des Stamms werden, bevor sie weiterziehen. Wie Erica, die man manchmal mit Fabrizio in Meditation versunken sieht. Doch völlig isoliert sind Siddharta und Fabrizio nicht. Monatlich findet ein Wechsel statt, wenn Siddharta zu seiner Mutter Sofia und deren neuer Familie zieht. Außerdem pflegt der Junge eine Freundschaft mit einem Mädchen aus dem Dorf, unweit des Hauses seines Vaters, durch das er in Kontakt mit Dingen kommt, gegen die sich Fabrizio schon vor langer Zeit ausgesprochen hat: stark gesüßten Eistee etwa. Oder Mittel gegen Läuse.

Damiano Giacomelli und Lorenzo Raponi beobachten das Leben der „Noci Sonanti“ einen von sonnendurchfluteten Tagen und neugeborenen Katzen geprägten Sommer lang. Einer demonstrativen Wertung entziehen sich die Regisseure dabei – und montieren doch behänd die verschiedenen Lebensmodelle, zwischen denen Siddharta wandelt und nicht selten auch vermittelt.

Carolin Weidner

The Other Side

Dokumentarfilm
Frankreich,
Italien
2015
92 Minuten
Untertitel: 
keine

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Produktion
Muriel Meynard, Paolo Benzi, Dario Zonta
Regie
Roberto Minervini
Kamera
Diego Romero Suarez-Llanos
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Ton
Bernat Fortiana Chico
Erneut begibt sich Roberto Minervini in die Südstaaten, diesmal nach Louisiana. Leben und Menschen hier sind rau, die Bilder dagegen umwerfend schön, fast zärtlich. Der Zwiespalt ist Konzept. Es ist die Zärtlichkeit von „I love you, bitch“, im Drogenrausch gesprochen. Die Schwüle eines Sommers mit schnellem Sex im Wohnwagen, Alkohol und Crystal Meth. Körperlichkeit, an der Grenze zur Intimität, bestimmt im Film das Miteinander der weißen Unterschicht. Vom amerikanischen Traum blieben der Rausch, rassistische Sprüche und das Schimpfen auf Obama übrig.

Auch wenn diese Welt der Abgehängten unbequem ist – sie ist da und führt eine gespensterhafte Existenz im Schatten der amerikanischen Geschichte. Wie der Protagonist Mark, den Minervini in einer Traumsequenz nackt auf der Landstraße inszeniert, als sei er bereits auf der anderen Seite. Doch dann erlaubt er diesem Louisiana-Geist, während der auf der Flucht vor einer Gefängnisstrafe selbstgemachte Drogen an Familie, Freundin und Freunde liefert, zu einem Menschen aus Fleisch und Blut zu werden.

Während die einen sich selbst abschießen, ballern die anderen herum: Paramilitärische Gruppen trainieren im Wald für den Ernstfall, um Amerika vor dem eigenen Staat zu retten. Was wie ein zweiter Film im Film wirkt, verbindet sich in den Slogans: „To protect our families, our freedom.“ Doch welche Familie, welche Freiheit?

Lars Meyer