Filmarchiv

Internationales Programm 2012
Big Boys Gone Bananas!* Fredrik Gertten

Der schier aussichtslose Kampf einer kleinen Filmproduktion gegen den Lebensmittelkonzern Dole. Der Zusammenhang von Konsum, Meinungsfreiheit und Demokratie als Thriller.

Big Boys Gone Bananas!*

Dokumentarfilm
Schweden
2012
90 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Margarete Jangård, WG Film
Regie
Fredrik Gertten
Musik
Conny Malmqvist, Dan "Gisen" Malmquist
Kamera
Frank Pineda, Joe Aguirre, David McGuire, Malin Korkeasalo, Stefan berg, Kasia Winograd, Sasha Snow, Terese Mörnvik
Schnitt
Jesper Osmund, Benjamin Binderup
Animation
Charlotte Rodenstedt
Buch
Fredrik Gertten
Ton
Alexander Thörnqvist
Die Banane galt 1989 in Ostdeutschland, als ein ganzes Volk „gone bananas“ war, als Symbol des schönen Lebens schlechthin. Die Freiheit uneingeschränkten Konsums schien mit jener der Rede und der Kunst automatisch einherzugehen. Frederik Gertten lehrt uns nun, was Bananen wirklich mit Demokratie zu tun haben.
Dass ihr Anbau auf den nikaraguanischen Plantagen des Lebensmittelkonzerns Dole extrem gesundheitsschädigend für die Arbeiter ist, hatte Gertten in seinem letzten Film gezeigt. Vor dessen Premiere erhält der Filmemacher ein 200-seitiges Schreiben der Firma mit dem Ziel, die Aufführung zu stoppen. Eine beispiellose Kampagne – die Gertten hier dokumentiert und nacherzählt – nimmt ihren Lauf. Eine kleine, unabhängige Filmproduktion trotzt einem Big Player, der von der Justiz, dem L.A. Filmfestival und der Presse bis zum gesamten Internet alles und jeden nach Belieben kaufen, manipulieren, bedrohen oder gar vernichten zu können scheint. Ein ungleicher, schier aussichtsloser Kampf gegen eine Macht, die alle Orwellschen Fantasien in den Schatten stellt.
Erst, als die Zivilgesellschaft in Form des schwedischen Parlaments und einer Handvoll aufgeklärter Konsumenten zu begreifen beginnt, dass die Verantwortung für die Freiheit der Meinung und der Kunst nicht allein beim einzelnen Künstler liegen kann, sondern dass dieses Gut von allen verteidigt werden muss, gibt es eine unerwartete Wendung, die – wir ahnen es – etwas mit dem Konsum von Bananen zu tun hat …
– Grit Lemke
Internationales Programm 2017
Burka Songs 2.0 Hanna Högstedt

Eine Performance gegen das Verschleierungsverbot in Frankreich wird zum Ausgangspunkt einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit (strukturellem) Rassismus und (aktivistischer) Anmaßung.

Burka Songs 2.0

Dokumentarfilm
Schweden
2017
45 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Hanna Högstedt, Archana Khanna
Regie
Hanna Högstedt
Kamera
Annika Busch, Maja Kekonius
Schnitt
Hanna Högstedt, Annika Ivarsson
Buch
Hanna Högstedt
Ton
Gustaf Berger
Nach einer landesweiten Diskussion wurde in Frankreich das Tragen einer Gesichtsverschleierung 2011 gesetzlich verboten. Die Befürworter argumentierten, sie stehe im Gegensatz zu den Werten der Republik: Geschlechtergleichheit und Freiheit von religiösem Zwang. Die schwedische Filmemacherin Hanna Högstedt hält das für populistische Symbolpolitik und beschließt, eine Performance auf der Avenue des Champs-Élysées durchzuführen, bei der sie sich filmen lässt: Bekleidet mit einer schwarzen Burka, singt sie aus vollem Hals die französische Nationalhymne.

Die Reaktionen sind anders als erwartet. Mit „Burka Songs 2.0“ arbeitet Högstedt auf, was während der Aufnahmen geschah und welche Überlegungen dies bei ihr auslöste. Sie beschreibt, wie schwierig es ist, sich zu einer als verlogen empfundenen, um die Stammtische buhlenden Politrhetorik zu verhalten, ohne selbst in den Strudel der Zuschreibungen gezogen zu werden. Sie realisiert, dass sie auf ihre Fragen keine befriedigenden Antworten findet und entscheidet sich, ihre Ratlosigkeit zum Ausgangspunkt dieses Films zu machen. Im Gespräch mit Menschen, die im Alltag – ohne jede Absicht zur Provokation – Rassismus erfahren, ändert sich Högstedts Perspektive. Nach und nach arbeitet sich die Schwedin an der Ambivalenz des Themas ab und kommt schließlich zu der Erkenntnis, dass auch ihr eigenes Handeln nicht frei von Anmaßung war – und ist.

Luc-Carolin Ziemann
Internationales Programm 2018
Curiosity and Control Albin Biblom

Wilde Tiere faszinieren die Menschen. Die Tier-Präsentationsformen reichen von kunstvoll gestalteten Dioramen in Museen bis hin zu modernen und tiergerechteren zoologischen Gärten.

Curiosity and Control

Dokumentarfilm
Schweden
2018
58 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Adam Marko-Nord, Sara Waldestam
Regie
Albin Biblom
Musik
Goran Kajfes, David Österberg
Kamera
Albin Biblom
Schnitt
Bernhard Winkler
Buch
Albin Biblom
Ton
David Österberg
Dioramen waren im 19. Jahrhundert eine Art Vorläufer des Kinos. Ausgestopfte Tiere aus fernen Ländern sollten in möglichst naturgetreuer Umgebung inszeniert werden. Der US-amerikanische Forscher und Bildhauer Carl Akeley gilt als Vater der Taxidermie. Anfang des 20. Jahrhunderts schuf er stilbildende Dioramen im Naturkundemuseum in New York. In den 1920er Jahren filmte er als Erster wilde Berggorillas und wurde vom Jäger zum engagierten Tierschützer. In seiner Biografie spiegelt sich nicht nur der gesellschaftliche Wandel im Umgang mit Tieren, sondern auch der technische Fortschritt.

Ausgehend vom Porträt des Pioniers Akeley geht „Curiosity and Control“ auf die Entwicklung von Tier-Präsentationsformen in naturhistorischen Museen und zoologischen Gärten ein und lotet kritisch verschiedene Sichtweisen aus. Was ist des Menschen Beziehung zur Fauna? Neugierde und Kontrolle prägen sie: Erstere hat seit den frühen Expeditionsreisen Forscher dazu getrieben, Tiere zu sammeln, zu besitzen, zu systematisieren – und vor dem Verschwinden zu bewahren. Besitz stellt jedoch auch Dominanz her. Dürfen andere Spezies gefangen gehalten werden? Egal wie „natürlich“ und tiergerecht die Zoo-Architektur gebaut ist: „Man erblickt etwas, das wie ein Elefant aussieht. Aber es benimmt sich nicht wie ein wilder Elefant“, sagt ein Zoodirektor. Ein weiteres Dilemma.

Annina Wettstein

Exit

Dokumentarfilm
Deutschland,
Norwegen,
Schweden
2018
80 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Eirin Gjørv
Regie
Karen Winther
Musik
Michel Wenzer
Kamera
Peter Ask
Schnitt
Robert Stengård
Buch
Karen Winther
Ton
Yvonne Stenberg, Gisle Tveito
Bildung DOK Leipzig Logo

Dokumentarfilm über Wege aus dem Extremismus

 

Altersempfehlung: ab 14 Jahre
Klassenstufen: ab 9. Klasse

Themen: Extremismus, Rassismus, Gewalt, Schuld, Neuanfang, Ausstieg
Unterrichtsfächer: Gemeinschaftskunde, Religion, Ethik, Politik, Deutsch, Philosophie

 

Zum Inhalt

Als Karen Winther wegen eines Umzugs alte Kisten in die Hände fallen, ist sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Gleich obenauf liegen Aufkleber mit Hakenkreuzen, daneben eine Kassette mit der Aufschrift „Blitz“ und „Hits“, einiges anderes Material mit Reichsadlern. Vor zwanzig Jahren schloss sie sich einer rechtsextremistischen Organisation in Norwegen an, suchte dort das Abenteuer und Gleichgesinnte. Heute schämt sie sich für dieses Material und für das, wofür es steht: ihre Zeit als Rechtsextreme. „Exit“ ist Karen Winthers Weg, die eigene Geschichte zu verstehen und ein Stück weit Frieden mit sich selbst zu schließen. Sie macht sich auf die Suche nach Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. In den USA trifft sie mehrere Frauen, die jahrelang in der rechten Szene aktiv waren und sich heute gegenseitig unterstützen. Mit Sören, einem ehemaligen Linksextremisten aus Schweden unterhält sie sich darüber, was es heißt, die eigene Meinung mit Gewalt durchzusetzen. In Deutschland besucht sie Ingo Hasselbach, „The Führer of Berlin“, von
dessen Ausstieg aus der ostdeutschen Neonazi-Szene der Wendejahre Winfried Bonengels Film „Führer Ex“ handelt. In Paris lernt sie den ehemaligen Dschihadisten David kennen, der mit den Attentätern der ersten Terroranschläge in Frankreich bekannt war und während seines Gefängnisaufenthalts den Absprung aus der Dschihadisten-Gemeinschaft geschafft hat. Winther interessiert sich vor allem dafür, was ihren Gesprächspartner/innen als Weckruf diente, Gewalt und Radikalismus hinter sich zu lassen. Was gab bei jedem Einzelnen den Ausschlag zum Ausstieg?

Als Karen Winther wegen eines Umzugs alte Kisten in die Hände fallen, ist sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Gleich obenauf liegen Aufkleber mit Hakenkreuzen, daneben eine Kassette mit der Aufschrift „Blitz“ und „Hits“, einiges anderes Material mit Reichsadlern. Vor zwanzig Jahren schloss sie sich einer rechtsextremistischen Organisation in Norwegen an, suchte dort das Abenteuer und Gleichgesinnte. „It‘s embarrassing to look at“, spricht sie im Off-Kommentar. „Exit“ ist ihr Film, ihre Geschichte und doch weist die Handlung schnell in andere Richtungen, bleibt nicht im eigenen Gefüge verhaftet. Winther reist in die USA, um Frauen zu treffen, die sich ebenfalls im rechtsextremen Milieu bewegten. Sie sitzt mit einem ehemaligen linksextremen Aktivisten im Auto und unterhält sich über eine prägende Begegnung, viele Jahre zuvor. Sie lernt Ingo Hasselbach, „The Führer of Berlin“, kennen, von dessen Ausstieg aus der ostdeutschen Neonazi-Szene der Wendejahre Winfried Bonengels Film „Führer Ex“ handelt. Und sie kommt mit einem Ex-Dschihadisten zusammen, der seine Strafe in einem Pariser Gefängnis abgesessen hat. Neben überraschend verbindenden Motivationen und Erfahrungen teilen alle Schwierigkeiten, die mit ihren „Exits“ zusammenhängen, Schuldgefühle, aber auch Gefährdungen seitens noch aktiver Mitglieder.



Carolin Weidner





Ausgezeichnet mit dem Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts, mit dem Young Eyes Film Award und dem Gedanken-Aufschluss-Preis der Jury aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen Strafgefangenen der JSA Regis-Breitingen


Internationales Programm 2018
IKEA for YU Marija Ratković Vidaković, Dinka Radonić

Die Identitätsgeschichte Jugoslawiens und Ex-Jugoslawiens ist konflikt- und widerspruchsreich. Marija bereist diese Geschichte, indem sie in ihre eigene Familie hineinforscht.

IKEA for YU

Dokumentarfilm
Kroatien,
Schweden
2018
52 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Vera Robić Škarica, Marija Ratković Vidaković
Regie
Marija Ratković Vidaković, Dinka Radonić
Musik
Siniša Krneta
Kamera
Dinka Radonić
Schnitt
Damir Čučić
Buch
Marija Ratković Vidaković, Dinka Radonić
Ton
Johan Bodin, Siniša Krneta
Ein Familien-Selfie vor den „Drei Fäusten“, einem Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg getöteten Bürger von Niš, der drittgrößten Stadt im heutigen Serbien. Drei Betonfäuste aus der Zeit des Titoismus ragen in den Himmel: die Faust eines Vaters, die einer Mutter, die eines Kindes. Marija bringt sich in Position, Mutter und Vater stellen sich daneben, der Bruder drückt den Auslöser. Nichts anderes wird auf diesem Bild gespeichert als die gesamte konflikt- und widerspruchsreiche Identitätsgeschichte Jugoslawiens und Ex-Jugoslawiens – eine Geschichte, die noch immer nachzittert und der Marija Ratković Vidaković, unterstützt von Co-Autorin Dinka Radonić, mit diesem persönlichen Familienfilm auf den Grund geht.

Geprägt durch Eltern und Großeltern, die die realsozialistischen Ideen und Werte der Tito-Ära auf dem Balkan noch in sich tragen, muss sich die Dreiunddreißigjährige mit einem paradoxen Identitätserbe auseinandersetzen, das mit ihrer privaten Welt und ihrem Leben in Kroatien kaum etwas zu tun hat. Marija weiß, dass sie dieses Erbe nicht an ihren Sohn weitergeben möchte, und sie weiß, dass es dafür in ihr verblühen muss. „IKEA for YU“ ist das über Jahre entstandene Zeugnis einer Reise in die eigene Familiengeschichte, tief hinein in die intimsten Geflechte, in denen sich eine lange, wendungsreiche Geschichte festgebissen hat. Und eine Reise weit hinaus aus Kroatien.

Lukas Stern


Nominiert für den MDR-Filmpreis

Internationales Programm 2018
Lyubov – Love in Russian Staffan Julén, Svetlana Alexievich

Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch befragt Menschen zum Thema: „Liebe ist …“ – was schwierig zu beantworten ist, besonders, wenn man von sich selbst erzählt. Genau das passiert hier.

Lyubov – Love in Russian

Dokumentarfilm
Schweden
2017
90 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Johan Lijleström Seth
Regie
Staffan Julén, Svetlana Alexievich
Kamera
Majaq Julén Brännström
Schnitt
Åsa Mossberg, Rasmus Nyholm Schmidt, Staffan Julén
„Liebe ist …“, stand früher auf Stickern, mit Herzchenumrandung, Firlefanz. Die Frage wird in diesem Film allerdings von einer Persönlichkeit gestellt, die herausragt aus dem Allerlei der Weltliteratur. Und zwar dadurch, dass sie dem „einfachen Menschen“ zuhört, seine je eigene Redeweise aufzeichnet und am Ende zu einem Kaleidoskop der Stimmen zusammenfügt. Dem „roten“, „sozialistischen Menschen“ und seinen Ideen näherte sich die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch mit dieser Methode und bekam dafür den Nobelpreis.

Nun ist sie den universalen Dingen auf der Spur und interviewt ihre Landsleute über Liebe und Beziehung. Eine gut gemeinte Frage, schwer zu beantworten. Das Buch über Tod und Altern, resümiert sie an einer Stelle, werde sicher einfacher, der Mensch scheine über Glück gar nicht so gern zu sprechen. Doch das stimmt natürlich nicht. Die Interviewten öffnen sich enorm, ob glücklich liebend oder unglücklich. Sie legen sich ins Bett ihrer verstorbenen Eheleute, für die sie Tango tanzten. Sie schwärmen heute noch vom grauen KGB-Anzug des Partners. Sie widmen ihr Leben dem nicht-eigenen behinderten Kind. Sie gehen stundenlang spazieren und holen sich Blasenentzündungen, weil weit und breit kein WC zu finden ist. Auch hier ein Kaleidoskop einer Idee also, auch hier ein eleganter Schnitt durch die (ex-sowjetische) Gesellschaft.

Barbara Wurm
Internationales Programm 2013
My Stolen Revolution Nahid Persson Sarvestani

Frauen, die nach dem Sturz des Schahs in iranischen Gefängnissen gefoltert wurden, treffen sich erstmals wieder und brechen ihr Schweigen. Befreiung durch die Kraft der Kunst.

My Stolen Revolution

Dokumentarfilm
Norwegen,
Schweden
2013
75 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Nahid Persson Sarvestani
Regie
Nahid Persson Sarvestani
Musik
Adam Norden
Kamera
Nicklas Karpaty, Makan
Schnitt
Emil Engerdahl, Nahid Persson Sarvestani
Die Archivaufnahmen der Eröffnungssequenz vergegenwärtigen den Alltag im Iran der 1970er Jahre. Vielen Menschen war es möglich, ein „normales Leben zu führen“, während die oppositionellen Gruppen noch Seite an Seite gegen den Schah kämpften. Der wurde gestürzt, „aber die Islamisten waren besser organisiert als wir“. Nahid Persson Sarvestani war damals linke Aktivistin. Nur mit sehr viel Glück und dank der Hilfe ihres Bruders Rostam entging sie der brutalen Gefangenschaft, die Folter, Vergewaltigungen und Massenhinrichtungen bedeutete. Auch Rostam wurde getötet.
Ein eigenwilliges Schuldgefühl bringt Nahid Persson Sarvestani Jahre später dazu, einige der wenigen Überlebenden des Widerstands zusammenzuführen. Die Suggestionskraft der Objekte und Kunstwerke, die in der und durch die Gefangenschaft entstandenen, sowie die erschütternden Erinnerungen der fünf Frauen an ein Regime, das heute immer noch an der Macht ist, werden einem sehr persönlichen Ansatz und dem Diskurs der eigenen Gedanken und Fragen gegenübergestellt. Der Regisseurin gelingt es überdies, von einer tiefen Verbundenheit zu erzählen, indem sie uns mit den bewegenden Gesichtern starker Persönlichkeiten konfrontiert, die sich nicht nur symbolisch von ihrem Tschador befreien.

Claudia Lehmann



Ausgezeichnet mit dem Filmpreis "Leipziger Ring" 2013

Internationales Programm 2014
Penthouse North Johanna St Michaels

Agneta, schwedisches Model im New York der Siebziger. Hipness, Ruhm, Geld und Schönheit versinken in Demenz und Altersarmut. Abschied von Manhattan im Vintage-Look.

Penthouse North

Dokumentarfilm
Schweden
2014
83 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Johanna St Michaels
Regie
Johanna St Michaels
Musik
Matt Johnson, The The
Kamera
Johanna St Michaels
Schnitt
Bernhard Winkler
Ton
Erik Bjerknes, Henrik Ohlin
Mit 62 sollte frau/man die Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Allein schon, um den Anfeindungen des Alters finanziell gewachsen zu sein. Aber wenn sich das Leben so verführerisch anbietet wie im New York der 1970er Jahre – wer mag da schon an Alter und Schwäche denken? Agneta Eckemyr war 20, als sie in die Stadt kam: ein blonder schwedischer Männertraum, entschlossen zur Karriere als Model und Schauspielerin. Mit Erfolg. Doch dann zerbröselte der Glückschip irgendwie in der Realität dieser harten Stadt. Was blieb, ist ein Penthouse am Central Park. Und hier liegt ihr Problem. Das Apartment ist reine Illusion. Die Adresse signalisiert Erfolg, wo keiner ist. Es existiert auch kein Einkommen, um die Miete zu bezahlen. Umso hartnäckiger kämpft der Ex-Star um diesen Rest des alten Lebens. Allerdings lassen ihre Kräfte allmählich nach. Agneta wird immer stärker abhängig von Freunden, die ihr finanziell unter die Arme greifen, im Haushalt helfen und sie vergeblich davon zu überzeugen suchen, das Apartment aufzugeben. Ihr Widerstand allein gegen den Gedanken daran erklärt sich erst später als Beginn einer Alzheimer-Erkrankung.
Ursprünglich plante die Regisseurin die Verfilmung eines autobiografischen Drehbuchs, das Agneta geschrieben hatte. Entstanden ist ein berührender Film über die Vergänglichkeit der Schönheit, das Älterwerden in Armut, über Freundschaft und Solidarität.
Matthias Heeder

Pervert Park

Dokumentarfilm
Dänemark,
Schweden
2014
75 Minuten
Untertitel: 
keine

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Frida Barkfors, Anne Köhncke
Regie
Frida Barkfors, Lasse Barkfors
Musik
Julian Winding
Kamera
Lasse Barkfors
Schnitt
Signe Rebekka Kaufann, Lasse Barkfors
Buch
Frida Barkfors, Lasse Barkfors
Ton
Frida Barkfors, Frank Mølgaard Knudsen
Sexualstraftaten zählen sicher zum Abscheulichsten, das Menschen anderen antun können. Über den Umgang mit den Tätern herrscht scheinbar ein breiter gesellschaftlicher Konsens. In den USA werden ihre Fotos öffentlich gepostet, und nach Verbüßung ihrer Haftstrafe dürfen sie nicht in der Nähe von Orten wohnen, an denen sich regulär Kinder aufhalten. Lediglich Sozialprojekte, wie das von Frida und Lasse Barkfors porträtierte in Florida, helfen ihnen, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen und ins Leben zurückzufinden. In ruhigen Bildern filmen die Regisseure den Alltag in der „gated community“, einigen der etwa 120 dort lebenden Männern und Frauen kommt der Film sehr nahe. In konzentrierter Intimität entfalten sich erschütternde und sehr unterschiedliche Geschichten, teils von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen und einem lebenslangen Kampf um Würde und menschliche Nähe, teils aber auch von aus der Bahn geworfenen Existenzen. Immer geht es um den Umgang mit der eigenen Schuld und die Frage, wie mit ihr weitergelebt werden kann.

Darüber hinaus lernen wir aber auch Menschen kennen, die in ein System geraten sind, das in einer Mischung aus gesellschaftlicher Hysterie und einem auf Profit ausgerichteten Justizapparat die Verurteilung von vermeintlichen Sexualstraftätern zu einem perfiden Geschäftsmodell gemacht hat. Den Begriff des „Perversen“ muss man nach dem Film anders denken.

Grit Lemke
Internationales Programm 2016
Reflections Sara Broos

Ein schwedisches 68er-Bilderbuch-Idyll, erfolgreiche Malerin die Mutter, Vorzeigemodelle die Töchter. Behutsame Reflexion über innere Abgründe und Familie, Kunst und Bulimie.

Reflections

Dokumentarfilm
Schweden
2016
76 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Sara Broos
Regie
Sara Broos
Musik
Pelle Ossler
Kamera
Billie Mintz Hampus Linder
Schnitt
Sara Broos
Animation
Peter Mettler, Esteban Rivera
Buch
Sara Broos
Ton
Patrik Strömdahl
„There‘s a crack, a crack in everything. That‘s how the light gets in.“ Der Text von Leonard Cohen, den Sara Broos in ihrem Film zitiert, umreißt das brüchige Selbstbild, das sie mit ihrer Mutter teilt. Und doch bleibt die Mutter für sie ein Leben lang unerreichbar. Die erfolgreiche schwedische Malerin Karin Broos hat sich in ihren häuslichen Routinen, ihrem perfekten Make-up und vor allem in ihren fotorealistischen Malereien ein Bollwerk gegen das Chaos, gegen ihre düsteren Gedankenwelten geschaffen. Auch die drei Töchter wurden zu Motiven ihrer Bilder, die wie eingefrorene Momente wirken.

Eine Annäherung an die Mutter muss es bleiben, wenn Sara nun umgekehrt diese inszeniert und filmt. Doch wie in einem dunklen Weiher spiegeln ihre stilisierten Filmbilder, in denen die schwedische Bilderbuchidylle stets auf ihre eigenen Schatten verweist, das Gemeinsame zwischen beiden. Verwoben mit Tagebucheintragungen, Fotografien und Schmalspurfilmen aus dem Familienarchiv entsteht das persönliche Doppelporträt zweier Frauen, deren Strenge zu sich selbst sowohl Mutter als auch Tochter durch schwere Jahre der Bulimie führte. Eine poetische Reflexion über die Melancholie und die Suche nach innerer Freiheit, vor allem aber über das Verhältnis von Kunst und Leben.

Lars Meyer
Internationales Programm 2013
Second Class Marta Dauliūtė, Elisabeth Marjanović Cronvall

Litauische Männer auf einer Schwedenfähre. Aufmerksame Studie über das Klischee des Arbeitsmigranten, die Realität Europas und den weiblichen Blick auf das männliche Objekt.

Second Class

Dokumentarfilm
Litauen,
Schweden
2012
60 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Elisabeth Marjanović Cronvall, Marta Dauliūtė
Regie
Marta Dauliūtė, Elisabeth Marjanović Cronvall
Kamera
Elisabeth Marjanović Cronvall
Schnitt
Elisabeth Marjanović Cronvall
Ton
Thomas Jansson
Die Gratwanderung, auf der FilmemacherInnen ihren Protagonisten begegnen, ist bekanntlich ein Weg voller Fallstricke, Frustrationen und Überraschungen. Geduld ist die oberste Tugend und ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen nicht von Nachteil. Marta Dauliūtė und Elisabeth Marjanović Cronvall treffen eine Gruppe junger litauischer Männer an Bord einer „Schwedenfähre“ und beschließen, einen Film über sie als Arbeitsmigranten zu machen. Die Männer weigern sich, vor allem, weil sie nicht verstehen, was an ihnen derart interessant sein soll, dass zwei Frauen einen ganzen Film damit füllen könnten. Sie wollen das Klischee der Arbeitsmigranten nicht bestätigen und haben keine Lust, das medial heraufbeschworene Mitleid zu bedienen. Eine Dokumentation über Erdbeben – ja, das würde ihnen einleuchten. Aber über sie?
Marta und Elisabeth lassen sich nicht abschütteln, trinken mit den Männern, tanzen mit ihnen – und bei aller Abwehr stellt sich bei den „Forschungsgegenständen“ allmählich ein gewisses Einverständnis ein. Trotz offensiver Ablehnung und stereotypem Machogehabe schaffen es die Frauen mit der Kamera nach einer Weile, die Fassaden anzukratzen, und bekommen – verkleidet als flirtiges Gepose – die innersten Gedanken offenbart. Herausgekommen ist eine aufmerksame Studie, die zum einen eine ganze Reihe aktueller gesellschaftlicher Missstände aufrollt, und zum anderen das Spezifische des weiblichen Blicks auf das männliche Objekt klug kommentiert.

Lina Dinkla
Internationaler Wettbewerb Animadok 2016
The Bus Trip Sarah Gampel

Mit Filmstudenten im Bus durch Israel fahren – eine tolle Gelegenheit. Doch Sarahs Versuche, etwas über die besetzten Gebiete zu erfahren und den Palästina-Konflikt zu diskutieren, isolieren sie von der Gruppe.

2016

The Bus Trip

Animadok
Schweden
2016
14 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Sarah Gampel
Regie
Sarah Gampel
Musik
Rickard Age, Patric Simmerud
Kamera
Sarah Gampel, Teitur Ardal
Schnitt
Sarah Gampel
Animation
Sarah Gampel
Buch
Sarah Gampel
Ton
Mikael Månsson
Mit Filmstudenten im Bus durch Israel fahren – eine tolle Gelegenheit. Doch Sarahs Versuche, etwas über die besetzten Gebiete zu erfahren und den Palästina-Konflikt zu diskutieren, isolieren sie von der Gruppe. Dafür tritt sie in einen Dialog mit ihrem verstorbenen Vater, der als polnischer Jude Anfang der 1970er Jahre vor den antisemitischen Kampagnen nach Schweden floh. Die animierten Gedanken überlagern die dokumentarischen Bilder und machen sie durchlässig für eine Reise in die Familiengeschichte.

Lars Meyer


Nominiert für Young Eyes Film Award
Internationales Programm 2014
The Dogwalker Caroline Ingvarsson

Alter Mann mit Hund. Eine Wohnung voller Erinnerungen: an einstigen Theaterruhm und Männer, mit denen es kein Glück gab. Kleine Etüde über die Einsamkeit.

The Dogwalker

Dokumentarfilm
Schweden
2014
13 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Caroline Drab
Regie
Caroline Ingvarsson
Musik
Alice Boman
Kamera
Benjamin Zadig
Schnitt
Dan Persson
Ton
Johan Hansson
Einsamkeit kennt viele Namen, zum Beispiel den des ehemaligen schwedischen Schauspielers Lars-Gunnar, der hier gerade leger im Morgenmantel in einem bühnenreifen Monolog sein Leben Revue passieren lässt. An den Wänden seiner bescheidenen Neubauwohnung künden Plakate vom ehemaligen Ruhm in der Theaterwelt. Nun ist sein einziger Zuhörer ein Hund und sein größtes Vergnügen das genussvolle Rauchen. Es kristallisiert sich die Skizze eines Lebens heraus, in dem einer zwar in der Liebe gescheitert ist und keinen augenscheinlichen Erfolg verzeichnen konnte, sich aber immer konsequent den Konventionen verweigert hat. Ist das der Preis, den man im Alter zu zahlen hat? Lars-Gunnar hat Charisma und ist definitiv kein Langweiler. Seine Homosexualität erwähnt er ganz selbstverständlich und nur am Rande. Regisseurin Caroline Ingvarsson begleitet ihren Protagonisten einen Tag lang – und man ahnt, dass die Tage einander gleichen. Sie gibt ihm den Raum, den der Selbstdarsteller braucht. Geradeheraus schildert dieser Kurzfilm die Begegnung mit einem Tausendsassa, der stets auf Risiko spielte und einem Jim-Jarmusch-Film entsprungen sein könnte – kurzum: einer, der beeindruckt.
Cornelia Klauß
Internationales Programm 2015
The Dybbuk. A Tale of Wandering Souls Krzysztof Kopczyński

In Uman prallen chassidische Pilger und ukrainische Bürger aufeinander. Antisemitismus und Nationalismus, soziale Ungleichheit und Ängste, Legenden und Rituale. Komplexe Betrachtung.

The Dybbuk. A Tale of Wandering Souls

Dokumentarfilm
Polen,
Schweden,
Ukraine
2015
90 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Krzysztof Kopczyński, David Herdies, Gennady Kofman
Regie
Krzysztof Kopczyński
Kamera
Jacek Petrycki, Serhiy Stefan Stetsenko
Schnitt
Michał Leszczyłowski
Buch
Krzysztof Kopczyński
Ton
Mateusz Adamczyk, Marcin Lenarczyk, Sebastian Witkowski
Mit einem Ausschnitt aus dem jiddisch-sprachigen polnischen 30er-Jahre-Klassiker „Der Dybbuk“ reißt gleich zu Beginn eine Wunde auf: Die Welt des Schtetls mit ihrem alten Volksglauben gibt es nicht mehr. Doch der Totengeist, der Dibbuk, wandert auch jetzt noch umher. Und er hat viele Gesichter.

Aus der Vergangenheit tauchen wir im ukrainischen Uman kurz vor dem „Euromaidan“ wieder auf. Ein heiliger Ort für Tausende orthodoxe Juden, die während des Neujahrsfestes zum Grab des chassidischen Rabbis Nachman pilgern und das Stadtbild verwandeln. Zum Ärger ukrainischer Mitbürger, die sich vor einem Ausverkauf fürchten und mit Provokationen reagieren. Mal mit einem illegal aufgestellten Kreuz, mal mit einer Informationstafel zu Ehren des antisemitischen Kosakenführers und Schlächters Ivan Gonta. Oder etwas subtiler mit Extragebühren für einen koscheren Imbiss.

Die Welten prallen vielgestaltig aufeinander. Mit großer Neugierde fängt Krzysztof Kopczyński die kaum zu vereinbarenden Legenden und Rituale ein, die auf beiden Seiten zum Leben erwachen. Hier ein vollkommen verarmtes Land im Selbstfindungsprozess, begleitet von nationalistischen Tönen. Dort eine verlorene Tradition und die Erfahrungen des Holocausts. Wem gehört das Land? Der Film schöpft aus der Fülle des Materials, das voller Eindrücke, ungeschliffener Szenen und Fabeln steckt, und fördert dabei auch Unerwartetes zu Tage.

Lars Meyer
Internationales Programm 2018
Vox Lipoma Jane Magnusson, Liv Strömquist

Müssen große Künstler untadelige Menschen sein? Und wenn das Gegenteil der Fall ist: Was nimmt das von ihrer Kunst? Ein animiertes Porträt des Regisseurs Ingmar Bergman.

Vox Lipoma

Animationsfilm
Schweden
2018
11 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Cecilia Nessen
Regie
Jane Magnusson, Liv Strömquist
Musik
Lars Kumlin, Jonas Beckman
Animation
Johan Sonestedt, Paulina Brink, Veronica Wallenberg, Aurora Febo, Henrik Stensnäs, Sanny Serinkaya Vestmalm
Buch
Jane Magnusson, Liv Strömquist
Ton
Annika Hedlund
Müssen große Künstler untadelige Menschen sein? Möglicherweise hätten das aufrechte Kunstliebhaber gern so, aber manchmal tickt die Welt eben anders. Während wir Normalsterbliche nur einen kleinen Mann im Ohr haben, der einem penetrant einflüstert, dass wir bessere Menschen sein könnten (wenn wir nur wollten!), hat Ingmar Bergman ein sprechendes Lipom auf der rechten Wange – ein furchtbar nerviges Kerlchen. Mindestens so nervig wie Ingmar selbst. Animierte Blasphemie. Und wirklich vom Feinsten!

Ralph Eue