Filmarchiv

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Internationaler Wettbewerb Dokfilm 2012
11 Images of a Human Markku Lehmuskallio, Anastasia Lapsui

Poetisch-reflexive Untersuchung von Höhlenmalereien und Felsbildern. In magischem Zauber ergreifen die Bilder das Wort und tanzen wie Schamanen durch die Jetzt-Zeit.

11 Images of a Human

Dokumentarfilm
Finnland
2012
75 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Markku Lehmuskallio, Giron Filmi Oy
Regie
Markku Lehmuskallio, Anastasia Lapsui
Musik
Heikki Laitinen, Anna-Kaisa Liedes
Kamera
Johannes Lehmuskallio, Markku Lehmuskallio
Schnitt
Anastasia Lapsui, Markku Lehmuskallio
Buch
Anastasia Lapsui, Markku Lehmuskallio
Ton
Martti Turunen
Poetisch-reflexive Untersuchung der Silhouetten, die zum Teil vor Jahrtausenden in Felsgestein fixiert wurden und seither dort existieren: Die Felsbilder, die Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio an vielen Orten der Welt aufsuchten, gelten den Filmemachern zum einen wie Bilderschriften, mit denen die Damaligen ihr Weltverständnis zum Ausdruck brachten, zum anderen wie Spiegel, in denen unsere Vorfahren sich selbst betrachteten. Vor allem aber sehen sie darin Phänomene, die mit einer magischen Aura behaftet sind: Objektivierungen menschlichen Staunens. Geschichten werden anverwandelt und verwandelt. „Stell ein Bild her, so dass du für immer darin leben kannst“, so eine der Erzählerstimmen. Unverrückbar erscheinende Subjekt-Objekt-Verhältnisse werden in magischem Zauber wieder verflüssigt. Wiederholt ergreifen die Bilder des Films das Wort, sagen ICH und sprechen UNS an: Denn nicht nur wir betrachten diese Figuren auf den Felsen, sie schauen auch auf uns zurück. Einmal lösen sich diese verzauberten Wesen gar, von der visionären Kraft der Filmemacher animiert, vom Stein, wechseln, wie Schamanen, die Ufer der Realitäten – tauchen für einen Moment in die Jetzt-Zeit eines gefilmten Tanzrituals ein, geistern dann aber auch schon wieder, gänzlich unbekümmert, zurück in ihre steinerne Ewigkeit.
– Ralph Eue

A Folk Troupe

Dokumentarfilm
China
2013
62 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Gang Zhao, Cherelle Zheng
Regie
Gang Zhao
Kamera
Qian Ge, Deng Gang
Schnitt
Luo Quan
Buch
Lin Yan
Ton
Liu Jian
Ein leichtes Brot ist es für die fahrenden Gesellen nicht. Am Stadtrand von Chengdu, einem Wirtschaftszentrum im Südwesten Chinas, wo sich eine besondere Form der Peking-Oper, die Sichuan-Oper, traditionell entwickelt hat, hält eine elfköpfige Theatertruppe Einzug in ihr provisorisches Domizil in einer garagenähnlichen Halle, unmittelbar neben einer Großbaustelle. Jeden Tag bieten sie ein anderes Stück dar. Für die drei- bis vierstündigen Aufführungen haben die Performer von Kindheit an die Geheimnisse der kunstvoll geschraubten Gesänge und die ausgeklügelte Choreografie beim Wechsel der aufwändigen Masken erlernt. Jahrhundertealte Geschichten werden immer wieder repetiert. Aber romantisch ist das Wanderleben wahrlich nicht. Hier in Chengdu sitzen sie fest. Es fehlt an Geld für die Weiterreise, Bürokraten zeigen sich unwillig, Genehmigungen zu erteilen, es gibt Zänkereien untereinander, die Stimmung ist angespannt. Das auf bescheidenen Holzstühlen ausharrende Publikum besteht aus verhärmten Gestalten, deren zerfurchte Gesichter auf ein entbehrungsreiches Leben deuten. Größer könnte der Gegensatz zu den knallbunten Inszenierungen auf der Bühne, die in Titeln wie „Im Land des Überflusses“ die schönsten Verheißungen bergen, nicht sein. Diese Art der Wanderoper können sich die Zuschauer vielleicht gerade noch leisten, aber der Abgesang ist schon unüberhörbar. Und wieder geht ein Stück Kulturgeschichte verloren …

Cornelia Klauß



Ausgezeichnet mit dem Preis der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique 2013

Another Night on Earth

Dokumentarfilm
Spanien
2012
52 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
David Muñoz, Hibrida
Regie
David Muñoz
Kamera
David Muñoz
Schnitt
David Muñoz, Alicia Medina
Buch
David Muñoz
Ton
David Muñoz
Straßenverkehr in Kairo kann mit Fug und Recht als experimentelles Chaos angesehen werden. Ampeln etwa scheinen grundsätzlich nur als Lichtorgel wahrgenommen zu werden, platziert zur Auflockerung des Stadtbildes, aber sonst nicht weiter zu beachten. Taxis allerdings gelten als halbwegs vertrauenswürdige Fähren in diesem unberechenbaren Fluss der Verkehrsteilnehmer, umso mehr, wenn in der Stadt plötzlich, noch mehr als zu normalen Zeiten, alles in Bewegung geraten ist. Produziert zwischen März und September 2011, also während der Frühlingsblüte der arabischen Revolution und aufgezeichnet mit kleinstem Equipment, das fest in verschiedenen Taxis installiert war, ist „Otra noche en la tierra“ ein aufregendes Zeitbild der ägyptischen Gesellschaft in diesen Monaten. Dutzende Passagiere lassen uns teilhaben an ihrem aktuellen Kummer (häufig) oder ihrer Euphorie (manchmal) und ihren Erwartungen oder Befürchtungen angesichts einer ungewissen Zukunft. Der interessanteste Moment einer Taxifahrt, so der spanische Regisseur David Muñoz (der zugleich Kameramann, Produzent und Cutter war), sei jener, in dem das Taxi von einem Fortbewegungsmittel zu einem zensurfreien Kommunikationsraum wird, in dem diese seltsame Mischsituation aus Anonymität und Privatheit zum Katalysator für atemberaubend echte Momente menschlichen Miteinanders wird, man könnte auch sagen: wenn die Condition humaine ihre vielfältigen Gesichter offenbart.

Ralph Eue



Ausgezeichnet mit dem Preis der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und dem Preis der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique 2012

Are You listening!

Dokumentarfilm
Bangladesch
2012
90 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Sara Afreen, Beginning Production Ltd.
Regie
Kamar Ahmad Simon
Kamera
Kamar Ahmad Simon
Schnitt
Saikat Sekhareshwar Ray
Buch
Kamar Ahmad Simon
Ton
Sukanta Majumdar
Nur um einmal die Maßstäbe zurechtz rücken: Bangladesch gehört zu den Ländern, deren CO-2 Beitrag zum Klimawandel zu vernachlässigen ist. Gleichzeitig zahlt es den höchsten Preis. In hundert Jahren wird es vermutlich nicht mehr existieren, weil es vom steigenden Meeresspiegel verschluckt sein wird. Klimaflüchtlinge gibt es jetzt schon. Am 27. Mai 2009 traf der Zyklon Aila die Küste des Landes. Die Überschwemmungen trieben rund eine Million Menschen zur Flucht, unter ihnen hundert Familien aus Sutarkhali. Als ihr Dorf in den Fluten unterging, flüchteten die Menschen auf einen nahe gelegenen alten Deich. Dort harren sie seit nunmehr zwei Jahren aus. Ernährt von Hilfsorganisationen und irgendwie an die Geldökonomie des Hinterlandes angeschlossen, warten sie mit wachsender Ungeduld darauf, dass die Regierung den versprochenen Deich baut, um das verlorene Land zurückzugewinnen. Auf diesem Weg hat sie der einheimische Regisseur Kamar Ahmad ein Stück weit begleitet. Hartnäckig und mit einem großen Herzen für die aberwitzige Situation knapp über dem Wasserspiegel dokumentiert der Filmemacher über die Jahre einen Alltag, der von Geldsorgen, ungerechter Lebensmittelverteilung und gebrochenen Versprechen ebenso geprägt ist, wie von der Entschlossenheit, eines Tages doch zurückzukehren. Mit „Are you listening“ ist Kamar Ahmad eine große bildstarke Erzählung über die grundlegendste aller menschlichen Eigenschaften gelungen – der zu überleben, gegen alle Widerstände und gegen alle Vernunft. Gleichzeitig ist der Deich als letzter Zufluchtsort der Menschen ein beunruhigender Ausblick auf unser aller Zukunft.
– Matthias Heeder

CITIZENFOUR

Dokumentarfilm
Deutschland,
USA
2014
114 Minuten
Untertitel: 
deutsche

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Produktion
Dirk Wilutzky, Laura Poitras, Mathilde Bonnefoy
Regie
Laura Poitras
Kamera
Laura Poitras, Kirsten Johnson, Katy Scoggin, Trevor Paglen
Schnitt
Mathilde Bonnefoy
Im letzten Teil ihrer post-9/11-„New American Century“-Trilogie zeigt die vielfach preisgekrönte Regisseurin Laura Poitras, wie sich der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ der USA gegen die eigenen Bürger, gegen jedermann richtet. Es geht um Überwachung – auf der politischen, der philosophischen und der psychologischen Ebene. Es geht um Wahnsinn.
Im Januar 2013 wird Poitras, die schon länger zu dem Thema recherchiert und Kunstaktionen veranstaltet hat, von dem noch völlig unbekannten Edward Snowden kontaktiert und bringt mit dem Guardian-Journalisten Glenn Greenwald dessen brisantes Material im Juni an die Öffentlichkeit, kurz darauf auch Interviews mit ihm.
Poitras interessiert die Schnittstelle zwischen Politik und Kunst. So gestaltet sie „CITIZENFOUR“ als Triptychon der Paranoia: Von pseudo-demokratischen Beteuerungen amerikanischer Politiker und den ersten Whistleblowern über die Panoramen riesiger Geheimdienstzentralen führt es in die klaustrophobische Enge des Hotelzimmers in Hongkong, wo Snowden auf den Moment der Enttarnung wartet. Bis kurz vor die Veröffentlichung des Films reichen die Dreharbeiten und bilden ab, was Snowden auslöste.
Poitras geht es in ihrer Kunst darum, uns mit dem Wissen, das uns verfügbar und eben nicht geheim ist, emotional zu verbinden. „CITIZENFOUR“ macht geradezu physisch erfahrbar, was ein autoritärer Überwachungsstaat ist, und dass auch wir mittendrin sitzen. Kein schönes Gefühl.

Grit Lemke



Ausgezeichnet mit dem Filmpreis "Leipziger Ring" 2014

Cloudy Mountains

Dokumentarfilm
China
2012
85 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Han Lei, Documentary Channel, Shanghai Media Group (SMG)
Regie
Zhu Yu
Kamera
Liu Zhifeng
Schnitt
Han Lei
Ton
Shen Hancun
Nach der Arbeit, wenn sie zusammensitzen und Nudeln schlürfen, scherzen sie gerne herum. Sie führen imaginäre Tänze auf und kümmern sich rührend um einen verletzten Vogel. Die chinesischen Minenarbeiter in Lop Nut verdienen für dortige Verhältnisse nicht schlecht. Aber der Preis, den sie zahlen, ist hoch. Staub wirbelt auf, fügt sich zu Wolkengebilden, die über die Landschaft gleiten und sich zu guter Letzt wie ein Wollteppich zentimeterdick auf alles legen. Das Asbest-Abbaugebiet wurde weiträumig entvölkert. Es wirkt wie eine rauchende apokalyptische Vulkanlandschaft. Hier wird seit Jahren tonnenweise das Material abgebaut, das in Europa schon gar nicht mehr verwendet werden darf, aber hier für die Deckung eines immensen Wohnungsbedarfs sorgt. Während immer mehr Menschen in China vom Bauboom profitieren, leben die Asbestarbeiter in Zelten mitten auf dem Gelände.
Der Regisseur Zuh Yu deckt in seinem Debütfilm präzise die unsäglichen Bedingungen auf, unter denen die Arbeiter ihr Brot verdienen – abgeschnitten von der Außenwelt, mit der sie nur noch ihr Handy verbindet. Der Jüngste unter ihnen ist gerade 17. Mehr und mehr rücken jedoch die Menschen selbst mit ihrem derben Humor und ihren rauen coolen Sprüchen in den Fokus. Ihre Zähigkeit und der Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, machen "Cloudy Mountain" zu einem großen Statement, das die Frage nach der Conditio humana aufwirft.

Cornelia Klauß



Lobende Erwähnung im Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm 2012

Colombianos

Dokumentarfilm
Schweden
2012
90 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Antonio Russo Merenda, Hysteria Film AB
Regie
Tora Mårtens
Musik
Andreas Unge
Kamera
Erik Vallsten
Schnitt
Tora Mårtens
Die kolumbianischen Brüder Pablo und Fernando sind um die 20 und könnten unterschiedlicher nicht sein. Pablo lebt in Kolumbien, verfolgt klare Ziele und setzt sie entschlossen durch. Fernando, nur wenige Jahre jünger, hängt in Stockholm ab. Drogenabhängig, orientierungslos und kurz vor dem Absturz. Da soll eine Therapie unter Pablos Aufsicht in Kolumbien helfen. Über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren folgt Tora Mårtens Film den ungleichen Brüdern und Olga, ihrer Mutter, deren Rolle in Fernandos Unglück, je länger es andauert, zutage tritt. Ähnliches gilt für Pablo. Ferdi nennt er den Jüngeren, und behandelt ihn auch so: er plant die Therapie, er fordert, er organisiert. In aller Liebe, beide, und da liegt Fernandos Problem. Wie sich der Fürsorglichkeit entziehen, die wie ein Senkblei auf ihm lastet? Mit viel Gespür für Situationen, für die leisen Zwischentöne und stillen Beobachtungen erzählt „Colombianos“ die Geschichte einer Familie, deren Beziehungsgewebe neu ausbalanciert wird. In Verkehrung seines Status als Benjamin bildet Fernando hierbei das Gravitationszentrum, um das herum sich die alten familiären Bande auflösen, um auf einer neuen, geläuterten Ebene wieder zusammenzufinden. Olga sucht eine Selbsthilfegruppe auf, um ihr Verhalten zu ergründen. Pablo erhöht den Druck und befreit sich von der Verantwortung für den Bruder. Der schließlich setzt sich durch und kehrt allein nach Schweden zurück.
Schnitt. Ein Jahr später. Das Leben bietet manchmal auch ein Happy End. Wie im Kino.

Matthias Heeder



Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm 2012

Devil's Rope

Dokumentarfilm
Belgien
2014
88 Minuten
Untertitel: 
französische

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Produktion
Marc-Antoine Roudil
Regie
Sophie Bruneau
Kamera
Fiona Braillon, Rémon Fromont
Schnitt
Philippe Boucq
Ton
Félix Blume
Wie in ihrem vorhergehenden Film „Arbres“ braucht Sophie Bruneau nur einen Gegenstand, um eine ganze Welt zu beschreiben. In diesem Fall ist es der Stacheldraht, der die Parallelgeschichte der amerikanischen Besiedlung erzählt. Was ganz nützlich mit der Einzäunung der Tiere begann, führt über das Abstecken der Claims zur massenweisen Privatisierung von Landflächen und schließlich zur Abschottung an der mexikanischen Grenze gegen Wirtschaftsflüchtlinge. Der einstige Mythos vom Wilden Westen und das heute noch gern geführte Wort vom „God’s own Country“ werden angesichts des Private-Property-Schilderwaldes und des Abgrenzungswahns ad absurdum geführt. Individualisierung und Industrialisierung haben eben ihren Preis. Längst ist das Land keine Landschaft mehr, sondern nur noch Nutzraum. Diese Tatsachen entbehren zuweilen nicht einer gewissen Komik, die Sophie Bruneau in „La corde du diable“ unaufgeregt in Szene setzt. Lustvoll und mit überraschenden Volten erzählt sie in großen Tableaus von der Genese und dem Variantenreichtum dieses schlichten Drahtes. Die Referenzen an das Urgenre des amerikanischen Kinos, den Western, der die Bilder konnotiert, entfalten ein zusätzliches Sehvergnügen.
Cornelia Klauß

Die Trasse

Dokumentarfilm
Tschechische Republik,
Deutschland,
Russland
2013
121 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Natalia Manskaya, Filip Remunda, Vít Klusák, Simone Baumann
Regie
Vitaly Mansky
Kamera
Alexandra Ivanova
Schnitt
Pavel Mendel-Ponamarev
Buch
Vitaly Mansky
Ton
Dmitry Nazarov
Es war – so die „IG Erdgastrasse“ auf ihrer noch im deutsch-sowjetischen Freundschaftsstil gehaltenen Website – ein „Bauwerk des Jahrhunderts“, das mit dem Spatenstich am 6. Juni 1966 im fast-arktischen Westsibirien begonnen wurde, in den Vorperestroika-Jahren (zum Schrecken Reagans) reale transkontinentale Form annahm und heute beispielsweise den Rohstoffbedarf eines der wichtigsten rituellen Ereignisse Westeuropas deckt: den Rheingas-betriebenen Rosenmontagszug in Köln. Die „Urengoy–Pomary–Uzhgorod-Trasse“ erstreckt sich vom autonomen Kreis der Jamal-Nenzen bis zum Golf von Biskaya, so unbemerkt wie alles, was mit unserer Energieversorgung zu tun hat. Doch geopolitisch-ökologisch-ökonomisch ist die Pipeline eine riesige Goldader – mit klaren Konsequenzen (Abhängigkeiten, Technikgläubigkeit, Umweltschäden).
Entlang der unterirdischen Fährte erkundet Vitaly Mansky, den es zuletzt mit „Motherland or Death“ nach Kuba zog, diesmal unsere eigene fremde Heimat. Den politisch widerspenstigen Dok-Maître interessiert der Alltag jener, die neben und über der Trasse leben, nicht notwendigerweise jedoch von ihr (wo kein Geld, da kein Gas): indigene Eisfischer, orthodoxe Kirchenprozessionen, Putin-wählende Tuba-Bläser, Gorbatschow-kritische Veteranen, aufgebrachte Roma, fluchende Polen und marienverehrende Polinnen. Er kokettiert mit dem Klischee, weicht ihm aber geschickt aus. Big-Screen-Cinema, bildgewaltig und mit tollem Sounddesign.

Barbara Wurm



Ausgezeichnet mit dem MDR-Filmpreis 2013

Internationaler Wettbewerb Dokfilm 2012
Documentarian Ivars Zviedris, Inese Kļava

Ein Regisseur möchte Intas „einfaches Leben“ dokumentieren, wofür sie ihn nach Kräften beschimpft, verflucht und verprügelt. Deftige Replik auf die Praxis von Film und Medien.

Documentarian

Dokumentarfilm
Lettland
2012
82 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Aija Berzina, VFS FILMS
Regie
Ivars Zviedris, Inese Kļava
Kamera
Ivars Zviedris
Schnitt
Inese Kļava
Buch
Ivars Zviedris, Inese Kļava, Inga Ābele
Ton
Aivars Riekstiņš
Schon für Dziga Wertow war das „überrumpelte Leben“, das „Leben, wie es ist“, das non plus ultra des Dokumentarfilms. Ihm und seinen Kinoki war dabei jedes Mittel recht, auch versteckte Kamera, übel nahm es ihm keiner, der Kinematograph war eine Sensation, bei der man dabei sein wollte. Knapp 100 Jahre später zieht das junge Regie-Duo Ivars Zviedris und Inese Kļava aus (in die Moorlandschaft bei Kemeri, ganz nah bei Riga), um die Lebensweise einer Hinterweltlerin namens Inta per Kamera zu ergründen. Die derb-schrullige Dame mit eindrucksvollem Stimmorgan besitzt zwar kein TV, doch sie kennt die Spielregeln der Massenmedien (wie die Nuancen zwischen Docusoap und Reality-Show) offenbar nur allzu gut, insbesondere, was ihren Wert und ihre Rechte gegenüber den „Paparazzi“ betrifft. Von Anfang an übernimmt sie das Kommando und überhäuft Regie, Kamera und Produktion mit Flüchen, deren Heftigkeit den Normalsterblichen dezent erröten lassen. Inta sagt Sätze wie „Du scheißt mir doch in die Seele, du verfickter Typ, mit deiner verdammten Kamera!“ und nimmt dabei schon mal den Metallstock zur Hand, um Ivars den „Kopf zu zerdreschen“ oder ihn den „Päderasten“ zu übergeben. Geld nimmt sie keines an, aber zahlen sollte er, der sich „an ihrer Armut bereichert“, schon. Später wird sie weinen …, der Film ist längst zum tragikomischen Beziehungsfilm geworden, wie zum Metakommentar über das Da-Sein als „Dokumentālists" im Zeitalter der radikalen moralischen Entgrenzung (aka: Authentizität).
– Barbara Wurm

Fidaï

Dokumentarfilm
Algerien,
China,
Frankreich
2012
83 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Mathieu Mullier, Kafard Films
Regie
Damien Ounouri
Kamera
Matthieu Laclau
Schnitt
Mary Stephen
Damien Ounouri, Linda Amiri
Ton
Li Dan-Feng
Als 1954 der algerische Unabhängigkeitskrieg ausbrach, war El Hadi, der Protagonist dieses klug gebauten Films über das Töten in Zeiten des Kriegs, gerade einmal 14 Jahre alt. Sechs Jahre später war er ein Fidai, ein Kämpfer der algerischen Befreiungsfront FLN, in deren Auftrag er in Paris zwei Attentate durchführte. El Hadi war ein Freiwilliger, sein Motiv denkbar einfach: Kolonialismus ist unerträglich. 50 Jahre später greift der Regisseur Damien Ounouri die Geschichte seines Onkels El Hadi auf und zusammen beginnen sie eine Reise in dessen Vergangenheit. Vieles ist da zunächst verschüttet. Doch kehren die Erinnerungen langsam zurück, als sie in Paris die Orte seiner Attentate aufsuchen. Dort drückt der Regisseur seinem Onkel eine Waffe in die Hand: Ich bin dein Ziel. Zeig mir, wie du ihn erschossen hast. Und El Hadi nimmt die Pistole, die sich zunächst so fremd anfühlt wie seine Erinnerungen, dann lädt er durch und durchlebt die entscheidenden Momente erneut. Dem Opfer folgen, Pistole an den Kopf halten, abdrücken, flüchten. In diesem Moment zielt er nicht auf seinen Neffen, sondern auf den Verräter, den seine Vorgesetzten zum Tode verurteilt haben. Mag diese Situation auch hergestellt sein, El Hadis Gefühlswelt ist es in diesem Moment nicht. Diese filmische Methode funktioniert wie eine Zeitmaschine, die das Terrain für die entscheidende Frage bereitet: Hast du damals richtig gehandelt? Damien Ounouri folgt dieser Frage an seinen Onkel mit Respekt, eingebunden in den geschichtlichen Kontext der anti-kolonialen Bewegungen der 1960er Jahre und seiner zahllosen Opfer. Da ist nicht der Hauch eines Vorwurfs oder von Rechtfertigung. Nur ernsthafte Erinnerungsarbeit.

Hilton! – Here For Life

Dokumentarfilm
Finnland
2013
75 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Markku Tuurna
Regie
Virpi Suutari
Musik
Matti Pentikäinen, Arto Tuunela
Kamera
Heikki Färm
Schnitt
Jussi Rautaniemi
Buch
Virpi Suutari
Die Zukunft? Eine Kugel in den Kopf. – So fühlt es sich an, wenn man im Wohlfahrtsblock des „Hilton“, eines heruntergekommenen Neubauviertels in Helsinki, gestrandet ist. Wer hier lebt, ist noch keine 30 und hat alles durch. Er hat Wut im Bauch und Traurigkeit, die nicht zu Trauer werden will, sondern sich entladen muss. Indem man den Kopf gegen einen Balken haut, immer wieder. Indem man sich verletzt oder einfach nicht mehr rausgeht und sich irgendwann daran gewöhnt. Hier schläft man mit dem Messer unterm Kopfkissen, weil man es nicht anders kennt, und hier zerreißt man Rechnungen, weil es eh egal ist.
Virpi Suutari aber, aus der Zauberschule des finnischen Dokumentarkinos kommend, sieht keine Sozialfälle, sondern die Individuen Janne, Toni, Mira, Pete und Make. Während ihre Geschichten erzählt werden, die nahezu zwangsläufig nach ganz unten führen, beginnen sie im Film, aus sich selbst heraus zu leuchten. Die Bilder sind rau, nichts ist poliert, die Montage so impulsiv wie die Emotionen der Protagonisten und ihre flashartigen selbstgedrehten Handybilder. Kein Hauch von Sozialromantik – und doch findet die Kamera Momente von Reinheit, In-sich-Ruhen und Wärme. Sie findet eine Gemeinschaft, die den bürgerlichen Begriff von Familie neu definiert. Ein Kind wird geboren. Dass diese Geschichte mit Hoffnung endet, ist aber vor allem der Kraft von Suutaris Erzählung zu verdanken.

Grit Lemke



Ausgezeichnet mit dem Preis der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di 2013

Im Keller

Dokumentarfilm
Österreich
2014
85 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Ulrich Seidl
Regie
Ulrich Seidl
Kamera
Martin Gschlacht
Schnitt
Christoph Brunner
Buch
Ulrich Seidl, Veronika Franz
Ton
Ekkehart Baumung
Der Film handelt von Menschen und Kellern und davon, was Menschen in ihren Kellern so tun. Er handelt von Blasmusik und Opernarien, von teuren Einbauten und billigen Herrenwitzen. Von Staub und Sauberkeit, Sexualität und Schussbereitschaft, Fitness und Faschismus, Peitschenschlägen und Puppen.
„Der Keller“, sagt Ulrich Seidl, „ist in Österreich ein Ort der Freizeit und der Privatsphäre. Viele Österreicher verbringen mehr Zeit im Keller ihres Einfamilienhauses als im Wohnzimmer, das oftmals nur zu Repräsentationszwecken dient. Im Keller gehen sie ihren eigentlichen Bedürfnissen nach, ihren Hobbys, Leidenschaften und Obsessionen.“
Mit den herkömmlichen Reflexen von Zustimmung oder Ablehnung kommt man in diesem Film nicht weit. Voll souveräner Zurückhaltung werden hier unterschiedlichste Kellermomente in Szene gesetzt und zu meisterlich grotesken Tableaus arrangiert.
Dass bloß niemand glaube, die Groteske sei eine Gattung minderer Art! Sie ist unter den Künsten vermutlich nur das, was in der Architektur des Hauses der Keller ist. Der große russische Kulturphilosoph Michail Bachtin hat der Groteske in seinen Büchern schönste Kränze geflochten, unter anderem so: „Der klassische Realismus stellte die Wirklichkeit dar, wie sie den Normen einer kulturellen Ordnung zufolge sein sollte, der groteske Realismus zeigt die Wirklichkeit, wie sie trotz dieser Ordnung existiert.“
Ralph Eue

In Sarmatien

Dokumentarfilm
Deutschland
2013
120 Minuten
Untertitel: 
englische
deutsche

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Produktion
Volker Koepp
Regie
Volker Koepp
Musik
Rainer Böhm
Kamera
Thomas Plenert
Schnitt
Beatrice Babin
Ton
Thomas Huber
Es gibt zwei gegensätzliche Arten, Sarmatien zu beschreiben: als eine Gegend am Rande der bekannten Welt – so sahen es die alten Griechen –, oder als jenen Teil Europas, wo sich das einst sorgfältig vermessene geografische Zentrum des Kontinents befindet. Im Register des aktuellen „Diercke Weltatlas“ wird man Sarmatien indes vergeblich suchen, als Verwaltungseinheit ist es inexistent, und auch Google Maps vermag kein Stück weiterzuhelfen. Dennoch ist Sarmatien kein Hirngespinst.
Für seinen neuen Film ist Volker Koepp dorthin aufgebrochen und lässt uns mit großzügiger Geste teilhaben an seinen Eindrücken und Begegnungen in einer ebenso unbekannten wie eigentlich nahegelegenen Region zwischen Litauen und Weißrussland, zwischen der Ukraine und Polen, welche im Norden an die Ostsee grenzt und im Süden ans Schwarze Meer. Seit langem, mindestens seit 1972, als er „Grüße aus Sarmatien für den Dichter Johannes Bobrowski“ drehte, ist die historische Landschaft in seinem Werk immer wieder präsent. Ähnlich wie Bobrowski sieht auch Volker Koepp hier „jenes Traumland, in dem sämtliche Völker und Religionen ihren Platz fänden, wenn nicht die Geschichte alles eins ums andere Mal umgepflügt hätte“. Die Verwerfungen, die das hinterlassen hat, auch und gerade in den Menschen, die dort leben, und wie diese Menschen trotz allem von innen heraus strahlen, das ist hier aufs Schönste zu erfahren.

Ralph Eue

Just the Right Amount of Violence

Dokumentarfilm
Dänemark
2013
80 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Jon Bang Carlsen, Helle Ulsteen
Regie
Jon Bang Carlsen
Musik
Nathan Larson
Kamera
Jon Bang Carlsen
Schnitt
Rikke Selin, Morten Giese, Hilda Rasula
Buch
Jon Bang Carlsen
Ton
Jess Wolfsberg
Das könnte Hollywood sein: Zwei Cops stürmen im Morgengrauen ein Haus, zerren einen Teenager aus dem Kinderzimmerbett, verfrachten ihn ins Auto, fahren mit ihm durch die endlose amerikanische Weite. Ausbruchsversuch, Verfolgungsjagd, die Fahrt endet in einem Umerziehungslager für renitente Kinder mitten in der Wüste. – Das ist Hollywood. Am Fuß der Berge mit dem berühmten Schriftzug begibt sich Jon Bang Carlsen, bekannt für die ständige Auslotung der dokumentarischen Realität und ihrer Konstruiertheit, auf die Suche nach einem Traum, der hier permanent generiert wird: der von der glücklichen Familie. Lachende Kinder und fürsorgliche Eltern – ein Bild, das wir alle in uns tragen und dem wir ewig nachrennen.
Es ist die Suche nach dem eigenen verlorenen Vater, die sich zu einem großen Essay über Liebe, Verantwortung und Moral verdichtet. Aussagen eines jungen Mannes, der die gnadenlose „Intervention“ durchlief, Berichte von Officers der „Eingreiftruppe“ sowie persönliche Reflexionen werden von Bildern des sauberen, suburbanen Mittelschicht-Amerika konterkariert. Es geht um ein Weltbild: Wer sich nicht an „Gesetze“ (wessen?) hält, wird bestraft – egal ob Kinder von ihren Eltern oder andere Völker von Uncle Sam. Der Traum von der heilen Welt, die man so kreiert, ist nichts als Fiktion – weshalb Carlsen die Grenzen des Dokumentarischen hier wieder weit überschreitet.

Grit Lemke

Killing Time

Dokumentarfilm
Niederlande
2013
54 Minuten
Untertitel: 
keine

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Produktion
Eric Velthuis
Regie
Jaap van Hoewijk
Kamera
Adri Schrover, Stef Tijdink
Schnitt
Jos Driessen
Buch
Jaap van Hoewijk
Ton
Diego van Uden & Benny Jansen
Um 12.45 Uhr kommen die Geistlichen, ab 13.30 Uhr sind die Telefone geschaltet für ein letztes Gespräch. Während vor dem Staatsgefängnis Arbeiter den Pressebereich absperren, ein Podium und das Rednerpult aufbauen, rücken Fernsehteams an und die Fraktion der Protestler bezieht ihren Platz. Kurz vor 18 Uhr Ankunft der Zeugen und Opferfamilien. Die Angehörigen des Täters sitzen derweil im Hospitality Center und hoffen auf den Gnadenerlass. Es bleiben zwei Minuten. Punkt 18 Uhr, am 12. Juni 2013, empfängt Elroy Chester die Todesspritze. Und die Routine einer Hinrichtung nimmt ihren weiteren Lauf. Business as usual in Huntsville, Texas.
Jaap van Hoewijk erstellt das nüchterne Protokoll eines Aktes, der bis ins letzte Detail institutionalisiert und rationalisiert ist, was auch das salbungsvolle Erlösungsvokabular des christlichen Personals nicht verbergen kann. Ebenso sachlich listet er die Fakten der Tat auf und eröffnet damit die ganze, nicht zufällig Dostojewski zitierende Dimension, die die Kapitel seines Films benennen: Verbrechen und Strafe.
Die Bilder lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Wie die einen scheinbar teilnahmslos akzeptieren, Täter zu sein, und bis in die Trauer hinein ihre Rolle annehmen. Wie sie im Schaukelstuhl auf das Todesurteil warten. Wie die anderen, die doch Opfer sind, sich zum Siegerfoto aufstellen. Und man begreift, dass dies das wirkliche Verbrechen ist.
Grit Lemke