Filmarchiv

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Wettbewerb für junges Kino 2014
All Things Ablaze Oleksandr Techynskyi, Aleksey Solodunov, Dmitry Stoykov

Der Maidan als Schlachtfeld: Aus Protest wird Gewalt und Kontrollverlust – auf beiden Seiten. Atemlose, unaufhaltsame Bewegung, mit der Energie der Masse, bis zum Inferno.

All Things Ablaze

Dokumentarfilm
Ukraine
2014
82 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Yulia Serdyukova
Regie
Oleksandr Techynskyi, Aleksey Solodunov, Dmitry Stoykov
Musik
Anton Baibakov
Kamera
Oleksandr Techynskyi, Aleksey Solodunov, Dmitry Stoykov
Schnitt
Marina Maykovskaya, Aleksey Solodunov
Ton
Oleg Golovoshkin, Boris Peter
Es wird vielleicht noch länger so sein, dass die Ukraine in Flammen steht und das Sinnbild des Kiewer Maidan – brennende Tonnen und Reifenbarrikaden – der visuelle und olfaktorische Knotenpunkt des revolutionären Gedächtnisses bleibt. Die Gesichter voller Ruß, entschlossen, aber müde. Die Köpfe blutig, aber hart. Der Schlachtruf „Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden“ hallt über den Platz, in allen Tonlagen, ein eigenartiger gemeinsamer Nenner der Aufständischen. Was mit Trommeln, Dudelsack und Europafahnen begann und nahtlos in den blutigen Widerstand gegen Knüppel-Bataillone und Gewalt auf beiden Seiten mündete, entfachte – das wird in diesem unkommentierten und doch aussagestarken wie informativen Gemeinschaftsprojekt mehr als deutlich – eine Energie der Masse, die unberechenbar und unaufhaltsam ist.
Im Kern des Films findet sich eine Szene, deren Länge an die Grenzen des Erträglichen geht, deren Symbolkraft aber gerade deshalb auch körperlich spürbar wird: Da demolieren Demonstranten freudig und mit aller Kraft eine riesige Leninbüste und schießen Siegesfotos (ohne recht zu wissen, was Lenin genau mit ihrem Hass zu tun hat), während ein alter Sowjet-Typ das geliebte steinerne Kolossfragment umarmt und nicht mehr freigeben will, bis er beinahe kollabiert. Der Maidan als Schlachtfeld. Quelle horreur!

Barbara Wurm



Ausgezeichnet mit dem MDR-Filmpreis 2014

Wettbewerb für junges Kino 2012
Beerland Matt Sweetwood

Ein Amerikaner auf Bier-Expedition in das Herz deutscher Identität: Oktoberfest, Brauereien, Bierkönigin, Eckkneipe, Karneval und Schützengilde. Roadmovie voller Spaß und Wahrheit.

Beerland

Dokumentarfilm
Deutschland
2011
85 Minuten
Untertitel: 
deutsche

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Produktion
Olaf Jacobs, Hoferichter & Jacobs GmbH
Regie
Matt Sweetwood
Musik
Eike Hosenfeld, Moritz Denis, Tim Stanzel
Kamera
Thomas Lütz, Axel Schneppat
Schnitt
Stefan Buschner, Markus Stein
Animation
Makks Moond
Buch
Matt Sweetwood
Ton
Robert F. Kellner, Raimund von Scheibner

Ein Amerikaner, der sich nach zehn Jahren in Deutschland immer noch fremd fühlt, möchte die Deutschen erkunden. Wo wäre dieses Volk mehr bei sich als am Stammtisch? Und hat nicht schon Tacitus das Trinkverhalten der alten Germanen beschrieben? So begibt sich der Fremde auf Expedition ins Bier-Land. Hinter dieser Rahmenerzählung verbirgt sich das bewährte Konzept der dichten Beschreibung aus der amerikanischen Cultural Anthropology: eine Kultur anhand eines Phänomens oder Rituals zu „lesen“ wie einen Text. Der Selfmade-Ethnologe Matt Sweetwood zelebriert es im Selbstversuch als eine Art Michael Moore der angewandten Bierforschung. Dies führt ihn vom Oktoberfest auf geheimnisvolle „Bierpfade“, in eine Berliner Eckkneipe ebenso wie auf den Kölner Karneval und zu einem Bierkriegs-Spektakel, in eine Privatbrauerei, wie zur Krönung einer Bierkönigin und schließlich gar in eine Schützengilde. Munter bewegt er sich durch die Republik, die deutsche Geschichte und filmische Formen vom Road Movie, der Komödie und Reportage bis hin zur Animation. Er begegnet jeder Menge Tradition, Merkwürdigkeiten und Mummenschanz, mitunter auch dem sprichwörtlich hässlichen Deutschen, dumpf grölend und voll Fremdenhass – meist aber liebenswürdigen Zeitgenossen, die dem Fremden gern erklären, was die einzig wahre Art des Anstoßens ist. Sichtbar wird eine Volkskultur mit Beharrungsvermögen und tatsächlich so etwas wie deutsche Identität. Ja, auch im Bier steckt Wahrheit. – Grit Lemke


Wettbewerb für junges Kino 2013
C(us)todians Aly Muritiba

Drei Handschellen, eine Krankenschwester und 900 Häftlinge. Chefinspektor Walkiu und sein Alpha-Team wollen den Vollzug professionalisieren – und rennen gegen Wände an.

C(us)todians

Dokumentarfilm
Brasilien
2013
89 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Antônio Jr.
Regie
Aly Muritiba
Kamera
Elisandro Dalcin
Schnitt
João Menna Barreto, Aly Muritiba
Buch
Aly Muritiba
Ton
Alexandre Rogoski, João Menna Barreto
Jefferson Walkiu ist der neue Chefinspektor im „Alpha-Team“ eines brasilianischen Gefängnisses, das über 900 Insassen beherbergt. Kein ungefährlicher Job, denn kriminelle Vereinigungen agieren außerhalb und innerhalb der Gefängnismauern, und das Wachpersonal ist schlecht ausgestattet. Mit guten Vorsätzen geht Walkiu daran, seine Abteilung zu professionalisieren. Doch die Dynamik in der Anstalt arbeitet gegen ihn.
Dass es für alle Gefangenen zusammen nur eine Krankenschwester und drei funktionierende Handschellen gibt, sind nur zwei unter vielen Herausforderungen. Täglich diskutiert Walkiu mit Häftlingen, Mitarbeitern und Vorgesetzten, die sich keinen Regeln verpflichtet fühlen. Doch auch sein ständiges Krisenmanagement kann Pannen nicht ausschließen. Umso überraschender wirkt sein ihn offenbar erfüllendes Doppelleben als Seelsorger einer kleinen Gemeinde. Hier lässt der stets um Kontrolle bemühte Mann emotionalen Dampf ab.
Der Alltag im Gefängnis aus Sicht des Wachpersonals und das Porträt eines Mannes, der es richtig machen will und gegen Wände anrennt. Regisseur Aly Muritiba hat selbst lange im Alpha-Team gearbeitet und kennt sich in den hohen, schmalen Fluren des Gefängnisses sichtlich aus. Lange Einstellungen und gezielte Perspektivwechsel erzeugen in seinem Film ein Gefühl des zunehmenden Kontrollverlustes.

Lars Meyer



Ausgezeichnet mit dem Healthy Workplaces Film Award 2013

Wettbewerb für junges Kino 2013
Casa Daniela De Felice

Hier wohnte die Familie: Ein Haus voller Gegenstände und Erinnerungen wird ausgeräumt. Fein gesponnene Untersuchung des Erinnerns selbst, zart aquarelliert und sparsam animiert.

Casa

Dokumentarfilm
Frankreich
2013
54 Minuten
Untertitel: 
englische
französische

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Produktion
Marc Faye, Gerald Leroux
Regie
Daniela De Felice
Kamera
Matthieu Chatellier, Daniela De Felice
Schnitt
Alessandro Comodin, Daniela De Felice
Animation
Daniela De Felice
Buch
Daniela De Felice
Ton
Xavier Thibault
Das Haus ist vollgestopft mit Gegenständen, deren materieller Wert sich als gering erweist. Jahre nach dem Tod des Vaters beräumt die Regisseurin mit Mutter und Bruder das Familiendomizil, das einmal sozialen Aufstieg verhieß und in dem nun keiner mehr wohnen möchte. Die Erinnerungen sitzen in Alltagsresten und im Gerümpel zahlloser Kisten voller verstaubter entomologischer Exemplare. In einem ausufernden Sammeldrang hat die Mutter versucht, das Vergehen der Zeit anzuhalten. Und so umkreisen die Zwiegespräche der Familienmitglieder die Vergänglichkeit als großes Thema. Kann man Erinnerungen teilen? Was bleibt von einem Leben, wenn die nächste Generation den Dingen einen anderen Wert beimisst? Wenn die Erinnerungen zerfallen wie die Flügel der Schmetterlinge in den Vitrinen?
De Felice konzentriert sich ganz auf den Prozess des Erinnerns und die Frage, was unser Gedächtnis bewahrt. So geht es nicht um die Gesichter auf den Fotos, sondern um den Vorgang des In-die-Kamera-Haltens, Abfilmens und Kommentierens. Um die Momente des Schweigens, wenn die Kamera noch läuft. Und vor allem um die Gestalt, die unsere Erinnerungen annehmen. Hier sind es von der Regisseurin gezeichnete Tuscheaquarelle. Ganz reduziert und zart, mitunter sparsam animiert, machen sie, was nur Kunst vermag: Sie führt uns in innere Räume, wo unsere Familien weiterleben, wenn alle Artefakte längst Staub geworden sind.

Grit Lemke



Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube Animierter Dokumentarfilm 2013

Wettbewerb für junges Kino 2013
Crop Johanna Domke, Marouan Omara

Medienproduktion in Ägypten vor und nach der Revolution: Innenansicht von Machtstrukturen in einer ausgeklügelten Bild-Ton-Komposition, ein Blick auf das Woher und Wohin eines Apparats.

Crop

Dokumentarfilm
Ägypten
2013
47 Minuten

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Produktion
Johanna Domke
Regie
Johanna Domke, Marouan Omara
Kamera
Melanie Brugger
Schnitt
Johanna Domke, Emad Maher
Buch
Johanna Domke, Marouan Omara
Ton
Bilgehan Özis
Jeder verdient ein eigenes Bild, heißt es sinngemäß in einem alten ägyptischen Schlager. In Wahrheit gab es am Nil lange Zeit nur ein offizielles Bild: das eines starken, wohlhabenden Ägyptens, verkörpert durch seine Machthaber. Ein Großteil der Bevölkerung fand darin keinen Platz. Die junge Revolution war auch eine Bilderrevolution: Mit Digitalkameras und Mobiltelefonen eroberten sich die Menschen das Recht auf eine eigene Selbstdarstellung und erreichten damit die Welt. Doch wie repräsentativ sind diese neuen Bilder, fragt man sich angesichts der mehr als ungewissen aktuellen Lage. Der Film tritt einen Schritt zurück und blickt hinter die Strukturen der alten Macht. In Tableau-artigen Einstellungen besichtigt er einen Apparat von innen: die älteste und wichtigste staatliche Tageszeitung Al-Ahram, in der sich seit Nasser das offizielle Ägypten reproduzierte. Angefangen bei den Konferenzräumen im Dach des Hauses bis zu den Tiefgaragen, wo die Zeitungen geschnürt und ausgeliefert werden, begegnen wir einem Heer von Angestellten bei unterschiedlichsten Tätigkeiten. Währenddessen reflektiert eine Erzählerstimme, ein intersubjektives Surrogat aus Interviews mit Fotojournalisten, sozusagen aus erster Hand über die ägyptische Mediengeschichte. Die strenge Teilung von Bild- und Kommentarebene lässt uns genau hinschauen und gibt Fragen auf: Für wen arbeitet dieser Apparat in Zukunft?

Lars Meyer
Wettbewerb für junges Kino 2014
Death of the Serpent God Damien Froidevaux

Abgeschoben aus Paris, findet sich das Großstadtgirl Koumba in einem Dorf im Senegal wieder. Odyssee zwischen verzweifeltem Widerstand und Sich-Fügen mit rebellischer Heldin.

Death of the Serpent God

Dokumentarfilm
Frankreich
2014
91 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Xavier Pons
Regie
Damien Froidevaux
Musik
Ian Saboya
Kamera
Damien Froidevaux
Schnitt
David Jungman
Die Vorgeschichte klingt wie ein bitterböses Märchen und ist doch gängige Praxis in Europa. Im Alter von zwei Jahren kam Koumba mit ihren Eltern aus einem senegalesischen Dorf nach Paris. 18 Jahre lang kannte sie nur die französische Hauptstadt, bis sie nach einem nächtlichen Streit auf der Polizeistation landete und innerhalb von 48 Stunden abgeschoben wurde.
Sie findet sich in jenem von der Welt abgeschnittenen Dorf ihrer Vorfahren wieder, unter Verwandten, die sie nicht kennt. Hier leben noch alte Legenden, in denen Schlangenkönige über das Schicksal der Menschen bestimmen. Der Umbruch ist ein brutaler Schock. Die „weiße Koumba“, wie sie hier – durchaus verächtlich – genannt wird, inzwischen Mutter eines unehelichen Sohnes, sitzt in der Falle. Sie reagiert, wie sie es gewohnt ist: Furchtlos und rebellisch schlägt sie um sich, stellt Forderungen und beschimpft ihre Umgebung – auch den Filmemacher, den sie egoistisch nennt.
So entsteht der Film zunächst eher gegen den verzweifelten Widerstand der Protagonistin. Doch Damien Froidevaux lässt nicht locker, gibt die Widerspenstige nicht auf. Über fünf Jahre kehrt er immer wieder aus Paris nach Senegal zurück und wird damit selbst Teil eines Bewältigungsprozesses. Koumba durchläuft eine faszinierende Persönlichkeitsveränderung und wird schließlich zur Heldin ihrer eigenen Odyssee, während zugleich die Rolle der Kamera immer bewusst bleibt.
Lars Meyer
Wettbewerb für junges Kino 2014
Desert Haze Sofie Benoot

Bildgewaltiges Epos von der Eroberung des amerikanischen Westens. Die Wüste lebt – schräge Typen, Geisterstädte, Atomwaffentests, Cowboys und Indianer: ein dokumentarischer Western.

Desert Haze

Dokumentarfilm
Belgien
2014
109 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Frederik Nicolai, Eric Goossens, Frank van den Engel
Regie
Sofie Benoot
Kamera
Fairuz
Schnitt
Nico Leunen
Buch
Sofie Benoot
Ton
Kwinten Van Laethem, Michel Schöpping
Die Eroberung des Unbekannten ist der Kern des amerikanischen Gründungsmythos. Was wäre ein besserer Ort, ihn zu hinterfragen, als die Wüste des Mittleren Westens? Wo scheinbar nichts ist als Sand und Steine, stößt Sofie Benoot auf vielfältige Spuren menschlichen Wirkens: verlassene Minen, heilige Berge, prähistorische Zeichnungen, leere Städte, die auf den Ansturm von Bewohnern noch warten, eingeschmolzene Flugzeugteile, geheime Militärzonen bis hin zu Resten von Internierungslagern des Zweiten Weltkriegs und Atommüll-Warnschildern. Manche Spuren, wie die des Uranabbaus oder von Atomwaffentests, sind unsichtbar. Wie die Zweige des Steppenläufers legt Benoot Hunderte von Kilometern zurück. Sie trifft auf traurige Indianer, Country-jodelnde Japaner, Astronauten, die für die Besiedlung des Mars proben, und Mormonen, die kostümiert und mit Leiterwagen auf dem Treck der Pioniere ziehen (mit mobilem Chemie-Klo allerdings). Die Kamera erfasst gigantische Panoramen von Weite und Leere, dann wieder erforscht sie die Struktur bizarrer Gesteins-, Erd- und Wolkenformationen.
Schicht um Schicht legt Benoot den Mythos frei. Die Archäologie des amerikanischen Traums wird zum tiefen Blick in die Abgründe der Zivilisation. Die Geschichte der Eroberung des Westens, zeigt sich, ist eine Geschichte der Unterwerfung. So gnadenlos wie die Wüste selbst. Spiel mir das Lied vom Tod – mehr Western geht nicht.
Grit Lemke
Wettbewerb für junges Kino 2014
Die Menschenliebe Maximilian Haslberger

Jochen hat Hausverbot im Bordell, Sven kauft sich Männer und Frauen, beide warten auf die Liebe. Sexualität jenseits der Begriffe gesund, behindert, dokumentarisch und fiktiv.

Die Menschenliebe

Dokumentarfilm
Deutschland
2014
99 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Jasper Mielke, Martin Backhaus
Regie
Maximilian Haslberger
Kamera
Sebastian Mez
Schnitt
Katharina Fiedler
Animation
Martin Backhaus
Buch
Maximilian Haslberger
Ton
Martin Backhaus, Jochen Jezussek
Es passiert ganz beiläufig im Hintergrund: eine Frau im Rollstuhl, eine Nebenfigur, lächelt und winkt. Plötzlich hebt ihr Rollstuhl ab und verlässt mit ihr die Erde. Wer es bemerkt, muss sich fragen, was hier noch dokumentarisch ist. In der Tat setzt der Film viele Zeichen, dass er zwischen Dokumentar- und Spielfilm nicht kategorisch unterscheiden will. Seine bewusste Unschärfe, die die Wahrnehmung des Zuschauers kontinuierlich auf die Probe stellt, korrespondiert auf der inhaltlichen Ebene mit seiner Verweigerung der Kategorien „gesund“ und „behindert“. Sexualität und Liebe, und damit sind wir beim Thema, wollen schließlich von allen Menschen gleich gelebt werden. Da ist zum einen Joachim, der alleine wohnt, vollkommen gesund wirkt und doch in einer Grauzone lebt: zwischen relativer Selbstständigkeit und Bevormundung, insbesondere durch seine Schwester, die seine Verliebtheit in eine Prostituierte als Anomalie abtut. Die subjektive Kamera zwingt uns in Joachims Perspektive, in die unbequeme Perspektive eines Stalkers. Sven dagegen, Protagonist des zweiten Kapitels, ist körperlich deformiert und sitzt im Rollstuhl, hat dafür aber ein außergewöhnlich stark ausgeprägtes Bewusstsein für seine Bedürfnisse, die er offen formuliert und durch männliche und weibliche Prostituierte abdeckt. Die Sehnsucht nach Liebe erfüllt sich für ihn aber nicht. Was müsste dafür geschehen? Permanent wirft der Film Fragen auf, die nur der Zuschauer selbst beantworten kann.

Lars Meyer



Lobende Erwähnung im Wettbewerb für junges Kino 2014

Wettbewerb für junges Kino 2014
Double Happiness Ella Raidel

Das pittoreske Hallstatt im Salzkammergut wird in China als Klon nachgebaut. Flotter Essay über Original und Kopie, Globalisierung, Identität und jodelnde Chinesinnen im Dirndl.

Double Happiness

Dokumentarfilm
Österreich
2014
72 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Ella Raidel
Regie
Ella Raidel
Musik
Rudi Fischerlehner
Kamera
Martin Putz
Schnitt
Karina Ressler
Ton
Wong Ka Ho
Wenn zwei Menschen sich vermählen, so ist das nach chinesischer Vorstellung nicht ein geteiltes, sondern doppeltes Glück. Auch Kulturen können sich glücklich duplizieren, indem sie sich nachahmen. Diese Idee hat China zu einem Land von Meisterkopisten werden lassen. Kopiert werden nicht nur Gemälde, sondern ganze Orte samt dazugehöriger Landschaft. So wie Hallstatt im Salzkammergut. Die Bewohner des pittoresken Touristenortes, die sich für einzigartig hielten, mussten feststellten, dass sie ausspioniert und geklont wurden. Die Hotelbesitzerin sieht darin eine menschliche Urangst realisiert, doch als gute Geschäftsfrau ist sie auch fasziniert. Warum also nicht Bürgermeister und Blaskapelle nach China schicken, um das Glück zu besiegeln?
Von Hallstatt aus geht es auf eine anregende filmische Gedankenreise, bei der Original und Nachempfindung, Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen. Wo sind wir, wenn eine hübsche Chinesin im Dirndl den Mond ansingt: „Meine Zuneigung ist echt“? Offenbar in einem feuchten kapitalistischen Traum. Denn Hallstatt/China ist ein luxuriöses Investmentprojekt und nur ein Nebenprodukt des gigantischen Baubooms. Wo bleiben „wir“ und unsere Kultur dabei, fragen chinesische Architekten und Stadtplaner. Der Film entdeckt ein an sich zweifelndes China und verweist zugleich mit seiner clever verschachtelten Erzählstruktur ironisch auf „uns“ Europäer zurück. Auch die Identitätskrise verdoppelt sich.
Lars Meyer

El Gort

Dokumentarfilm
Tunesien,
Vereinigte Arabische Emirate
2013
87 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Hamza Ouni
Regie
Hamza Ouni
Kamera
Mohamed Hakim Boujomaa, Hatem Nechi
Schnitt
Najwa Khechimi
Ton
Hassen Najar
Dieser Film vibriert vor Wut. Nichts war gut, ist gut, wird gut sein. Diese bittere Wahrheit umschließt das Leben von Washwasha und Khairi wie eine Mauer. Beide Anfang 20, bettelarm, ohne Aussicht, jemals etwas anderes zu machen, als für wenig Geld Heuballen zu stapeln und auf LKWs auf- und abzuladen. Jobs? Es gibt keine in Tunesien. Also wollen sie weg, nach Europa. Doch auch dies ist nur ein Traum.
„El Gort“ erfasst die Jahre vor dem Aufstand gegen Ben Ali bis zu den ersten freien Wahlen, 2007 bis 2012. Aber diese Ereignisse haben für die beiden keine wirkliche Bedeutung. Washwasha saß während der Revolution im Gefängnis, Khairi ging wie die meisten Bewohner der Stadt brandschatzen. Irgendwie musste der Zorn raus. Geändert hat sich nichts. Außer dem Personal, das die Armen genauso betrügt wie das alte Regime. Und die islamischen Parteien? F*** them!
Die Wut übersetzt der Film in eine raue, direkte Bildsprache, die der Erzählung eine unglaubliche Wucht verleiht. Harte, schnelle Schnitte, eine unruhige, bewegte Kamera, keine Einstellung verweilt in der Schönheit des Augenblicks. Statt dessen ein Höchstmaß an Leben, das immer weiter gelebt werden muss. Und das ist das wirklich Erstaunliche an diesem ersten langen Film von Hamza Ouni – dass seine Protagonisten die Verhältnisse klarsichtig beschreiben, ohne sich aus der Verantwortung für ihre Handlungen zu stehlen.

Matthias Heeder



Ausgezeichnet mit der Talent-Taube im Wettbewerb für junges Kino 2014

Wettbewerb für junges Kino 2014
Elephant's Dream Kristof Bilsen

Eine Postzentrale, in der die Briefe verstauben, ein Bahngleis ohne Züge, eine Feuerwehr ohne Ausrüstung. Kinshasa, Kongo. Stillstand und Träume von der Zukunft, mit surrealer Note.

Elephant's Dream

Dokumentarfilm
Belgien
2014
74 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Bram Crols, Mark Daems, Marion Hansel, Kristof Bilsen, Mike Lerner
Regie
Kristof Bilsen
Musik
Jon Wygens
Kamera
Kristof Bilsen
Schnitt
Eduardo Serrano
Ton
Yves De Mey
Ein altes Auto ohne Reifen, das vor einem ländlichen Bahnhof bei Kinshasa aufgebockt herumsteht – das erinnert an Bertolt Brechts „Der Radwechsel“. Allerdings steht der Wechsel hier weder bevor, noch wird er mit Ungeduld erwartet. In größter Ruhe überlegt der Besitzer des Wagens, ein Stationswärter, wie er mit ihm ein kleines Nebeneinkommen erzielen könnte. Schließlich fragt er seinen Kollegen, der sonst das bevorzugte Objekt seiner Grübeleien darstellt. Seine Gedanken kommen wie ein Kommentar aus dem Off. Diese Szene ist nur eine von vielen Metaphern für den Stillstand in der Demokratischen Republik Kongo, die der Film mit brillanter Optik herstellt. Neben dem halb verwaisten Bahnhof sind die zentrale Post und die einzige Feuerwehrstation der Hauptstadt (drei Staatsbetriebe) Orte des Wartens auf eine Veränderung, die von der Politik stets mit Paukenschlag angekündigt wird.
Ein Land im Dornröschenschlaf, von Europa geplündert, von Kriegen zerrüttet, ohne funktionierende Infrastruktur. Der Film konzentriert sich auf diesen luziden Istzustand, auf den Traum von einer Modernisierung, dem er eine surreale Note abgewinnt. Vor allem lässt er sich von einer großen Empathie für die von ihm porträtierten Angestellten leiten. Darunter Henriette, die bei der Post hoffnungsvoll dem neuen elektronischen Geldtransfer entgegenblickt, auch wenn sie schon ahnt, dass wieder mehr Form als Inhalt dabei sein wird.
Lars Meyer

From My Syrian Room

Dokumentarfilm
Frankreich,
Deutschland,
Libanon,
Syrien
2014
70 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Nathalie Combe, Heino Deckert, Georges Schoucair, Myriam Sassine, Hazem Alhamwi
Regie
Hazem Alhamwi
Musik
Sivan
Kamera
Hazem Alhamwi, Ghassan Katlabi
Schnitt
Florence Jacquet
Buch
Hazem Alhamwi
Ton
Nuzha Al Nazer, Frédéric Maury
Beklemmung überfällt einen. Die Feder von Hazem Alhamwi kratzt über eine Schwarz-Weiß-Skizze, die eines Hieronymus Bosch würdig wäre. Apokalyptische Motive und zugespitzte Satire sind seine Spezialität und waren die Rettung. In einem Land wie Syrien, wo alles, selbst das Atmen – wie einer bitter kommentiert – kontrolliert wurde, brauchte es Fluchträume. Kunst, die auf Öffentlichkeit verzichtet, kann einer sein. Der Film entstand, als die Proteste im Windschatten des Arabischen Frühlings hoffen ließen, dass sich etwas ändern könnte: endlich aussprechen, was jahrzehntelang unterdrückt war und zu hohen Gefängnisstrafen geführt hätte. In Gesprächen mit Freunden und Verwandten betreibt der Regisseur Ursachenforschung, beginnend mit Kindheitserfahrungen von Propaganda und Personenkult, Anpassung und Angst. Heute, da sich die Ereignisse überschlagen, ist die hohe Zeit der schnellen Medien. Alhamwis differenzierte Töne, assoziative Motive und Ausflüge in die Bilderwelt der Kindheit haben es schwer mitzuhalten in einer Gegenwart, in der Syrien zwischen religiösen und ethnischen Interessen sowie denen des Auslands zerrieben wird. Die Stimmen aus Alhamwis Zimmer hallen nach aus einer Zeit, als Demokratisierung und Freiheit gefordert wurden. Diesen kurzen Moment, als die Opposition sich zu formieren und zu formulieren suchte, hält der Film fest. Die Zeit der Idealisten war kurz bemessen.
Cornelia Klauß

Jalanan

Dokumentarfilm
Indonesien
2013
107 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Daniel Ziv
Regie
Daniel Ziv
Musik
Dadang SH Pranoto
Kamera
Daniel Ziv
Schnitt
Ernest Hariyanto
Ton
Meita Eriska, Pahlevi Indra Santoso
Steht Boni in der superschicken Toilette eines superschicken Einkaufszentrums. Und sagt, nachdem er über reich und arm räsoniert hat, den unschlagbaren Satz: „Unsere Scheiße vermischt sich gut. Nur die Menschen wollen sich nicht mischen.“ Dieser Geist prägt den Film des kanadisch-stämmigen Regisseurs Daniel Ziv, der seit 15 Jahren die subkulturellen Milieus der ruhelosen Metropole Jakarta dokumentiert.
Sie sind Musiker in den Bussen der Stadt: Boni lebt an einem Abwasserkanal unter einer Brücke. Reine Magie, wenn er erzählt, wie er als Analphabet seine Stücke komponiert. Ho mit den Dreadlocks zieht als fröhlicher Anarchist durch die Stadt, immer auf der Flucht vor der Polizei. Und dann ist da Titi, Mutter dreier Kinder, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Jakarta kam. Gelandet ist sie in der Ehe mit einem Nichtsnutz. Sie holt ihren Schulabschluss nach, der ihr die Tür zu besseren Jobs öffnen soll. Vielleicht.
Gedreht im Cinéma-verité-Stil, schnörkellos und ohne falsche Sentimentalität, lernen wir nicht nur drei charismatische Charaktere in prekärer Lebenslage kennen. Ziv gelingt das Porträt einer Metropole, deren Bewohner schwer unter den Folgen der Wirtschaftsreformen ächzen. Insofern ist den Worten der Produktionsfirma nichts hinzuzufügen: „Jalanan“ handelt von Indonesien, Straßenmusik, Liebe, Gefängnis, Sex, Korruption, Reisfeldern und Globalisierung.
Matthias Heeder
Wettbewerb für junges Kino 2013
Kalyug Juri Mazumdar

Der uralte Stamm der indischen Bhil im Zeitalter des Niedergangs, des mythischen Kalyug – verursacht durch HIV. Legenden und Gegenwart durchdringen sich in archaischen Bildern.

Kalyug

Dokumentarfilm
Italien
2013
74 Minuten
Untertitel: 
deutsche

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Produktion
Heidi Gronauer, Lorenzo Paccagnella
Regie
Juri Mazumdar
Kamera
Anke Riester
Schnitt
Giorgio Chiodi
Ton
Gero Hecker
Es waren einmal ein Bruder und seine Schwester, die miteinander in Unzucht lebten. Das war der Beginn des Zeitalters Kalyug, der Epoche des Niedergangs in der hinduistischen Kosmologie. Ist es jetzt wieder angebrochen? Für die Bhil, einen uralten Volksstamm, muss es so aussehen. Nicht nur, dass die moderne Gesellschaft sie dazu verdammt hat, als Wanderarbeiter in Armut und Einsamkeit zu leben. Es grassiert auch eine furchtbare Krankheit: HIV. Ein rationaler Umgang mit Ursachen und Wirkung des Virus fällt vor dem Hintergrund eines traditionellen Volksglaubens und der Hierarchie in den indischen Krankenhäusern schwer. Immerhin kommen jetzt Medikamente zu den Patienten. Ein junger Medizinstudent bringt sie ihnen auf seinem Motorrad endlose Kilometer weit durch die karge, staubige Landschaft. Doch sein Kampf um Aufklärung scheint ein Kampf gegen Windmühlenflügel.
„Kalyug“ fesselt durch seine raffinierte, dialektische Erzählweise, in der alte Legenden und die Geschichten der Gegenwart sich wechselseitig durchdringen. Ohne Brüche leitet der Film von der Rahmenhandlung, einem Geschichtenerzähler am Lagerfeuer, zu drei Binnenhandlungen über, die wiederum in der Art eines Reigens miteinander verbunden sind. Ein Motiv stößt das nächste an. Eingebettet in einen ruhigen Erzählfluss, entfalten die archaischen Bilder eine mythische Wirkung – und bleiben doch der Wirklichkeit des Hier und Jetzt verhaftet.

Lars Meyer
Wettbewerb für junges Kino 2012
Kern Severin Fiala, Veronika Franz

Peter Kern, Fassbinder-Schauspieler und Trash-Regisseur, alternde Diva, bekennend schwul und massig: berührendes Porträt und facettenreiches Verwirrspiel von Inszenierung und Realität.

Kern

Dokumentarfilm
Österreich
2012
98 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Ulrich Seidl, Ulrich Seidl Filmproduktion
Regie
Severin Fiala, Veronika Franz
Kamera
Harald Traindl
Schnitt
Birgit Bergmann, Nikolaus Eckhard
Buch
Veronika Franz, Severin Fiala
Kern ist maßlos, in jeder Hinsicht, und nicht nur durch seine Körperfülle beeindruckend. Er, der schon bei Fassbinder gespielt hat, ist eine in die Jahre gekommene Diva, eine bekennende Schwuchtel, einer, der unbequem und kompromisslos ist. Stimmgewaltig beherrscht er fraglos den Raum, selbst wenn es sich um seine bescheidene Neubauwohnung in der Wiener Vorstadt handelt. Da, wo er ist, ist die Bühne. Die beiden Regisseure Veronika Franz und Severin Fiala hält er am Gängelband. Keine Sekunde lang lässt er eine Illusion darüber aufkommen, wer hier eigentlich Regie führt. Er dreht die Kamera kurzerhand um und hält uns den Spiegel vor. Er ist der Finger auf der Wunde, indem er unseren Voyeurismus und die Lust am Obszönen bloßstellt. Aber Franz und Fiala halten tapfer dagegen: sie entwaffnen ihn, indem sie ihre Strategien offenlegen. Aus dieser Spiegelfechterei heraus entfaltet sich ein außergewöhnliches, facettenreiches Portrait. Zwar kommt man dem Menschen Peter Kern kaum näher, aber dafür dem Künstler, den er darzustellen weiß und dessen Verkörperung von seinem Ich nicht mehr zu trennen ist. Zu den im Kino seltenen magischen Momenten gehört eine Einstellung, in der Kern sich an die Hand des Kameramannes schmiegt. Man denkt an „Die Schöne und das Biest“– nur wer ist hier wer?

Cornelia Klauß



Ausgezeichnet mit der Talent-Taube im Wettbewerb für junges Kino 2012

Wettbewerb für junges Kino 2012
Losing Sonia Radka Franczak

Fröhlich die Glocken läuten: Sonia hat als Schwester Christina in einem russischen Kloster die Vergangenheit hinter sich gelassen. Tiefes Ausloten einer radikalen Entscheidung.

Losing Sonia

Dokumentarfilm
Polen
2012
50 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Katarzyna Slesicka, Sideways Film
Regie
Radka Franczak
Kamera
Radka Franczak, Michael Ackerman, Ita Zbroniec-Zajt, Anna Wydra, Małgorzata Szyłak
Schnitt
Radka Franczak, Jarosław Kamiński
Buch
Radka Franczak
Der Film führt uns in den Alltag von Schwester Christina, einer jungen, orthodoxen Nonne. Sie betet bei Kerzenschein, dann mäht sie den Rasen auf dem Grünstreifen vor dem Kloster, entfernt alte Schrauben aus ausgebauten Holzfenstern. Sie malt Ikonen, feiert mit den Mitschwestern Silvester. In Interviewpassagen erzählt sie von ihrer Entscheidung für Gott und den anfänglichen Schwierigkeiten im Kloster. Als wir mit Christina – ihr weltlicher Name lautet Sonia – die Eltern besuchen, erahnen wir, was Sonia und die Familie noch immer prägt. Es sind die Traumata der sowjetischen Jahre: Krieg, Lager, Verbannung, sozialistische Erziehung.
Der Film lässt uns verstehen, warum sich eine junge Frau für das rigide Klosterleben entscheidet, ihre Familie verlässt, bei Gott Halt sucht. Die Regisseurin geht damit über die herkömmliche Betrachtung einer einzelnen Biografie hinaus. Sie zeigt, dass sich die sowjetische Geschichte tief in die Lebensläufe der Menschen eingebrannt hat und als Erbe weit hineinragt in die nachfolgenden Generationen. Sonias Mutter sagt, dass die menschlichen Instinkte von den Autoritäten gebrochen wurden. Selbst ihre Tochter hat sie verloren. Sonia jedoch hat ihren Weg gefunden. Am Ende sehen wir sie als Schwester Christina glücklich im Kirchturm die Glocken läuten.
– Antje Stamer