Filmarchiv

Jahr

Distance

Dokumentarfilm
Indien
2013
38 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Ekta Mittal
Regie
Ekta Mittal, Yashaswini B. Raghunandan
Musik
Rahul Giri
Kamera
Paromita Dhar, Amith Surendran
Schnitt
Abhro Banerjee
Buch
Ekta Mittal, Yashaswini B. Raghunandan
Ton
Abhro Banerjee, Christopher Burchell
Bangalore City. Im Reich der Wanderarbeiter. Gleich hinter dem Bahnhof oder jenseits der Schienen, jedenfalls dort, wo die großen Gerüste stehen mit den dazwischen gekauerten Wellblechhütten, die man provisorisch nennen mag (und wohl auch muss), wo die Menschen sich notdürftig ein paar Quadratmeter hergerichtet haben, liegt dieses Reich. Wenn das Leben selbst zur Baustelle geworden ist, fliehen die Träume weit weg. Liebe bleibt meist Erinnerung oder Sehnsucht, also Vergangenheit oder Zukunft. In der Gegenwart ist sie vor allem als Leerstelle erfahrbar. Umso wichtiger werden Geschichten von der Liebe. Direkt erzählt und gehört oder aus Richtung Bollywood über kleine Mobiltelefon-Bildschirme und -Lautsprecher eingesaugt, liefern diese Geschichten zugleich adaptierfähige Muster, in deren dramaturgische Verschlingungen sich die Jungs auf den Baustellen wunderbar als Mitspieler hineinfantasieren können.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit und virtuosem kinematografischem Gespür gehen Yashaswini Raghunandan und Ekta Mittal auch in ihrem zweiten Film der flüchtigen Aura von Menschen und Schauplätzen nach – ihr Film „Presence“ lief im vergangenen Jahr ebenfalls im Leipziger Wettbewerb. Und erneut ent-falten sie (im wahrsten Sinn des Wortes) Wirklichkeiten, die uns ansonsten verschlossen blieben.

Ralph Eue



Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb für kurze Dokumentarfilme 2013

Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2013
Emergency Calls Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen

Notrufe: eine Geburt, ein Unfall, der letzte Funkspruch der „Estonia“. Und Bilder aus dem All. Experimentelle Betrachtung des Worst Case und sphärisches Menetekel.

Emergency Calls

Dokumentarfilm
Finnland
2013
15 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen
Regie
Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen
Musik
Joonatan Portaankorva
Kamera
Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen
Schnitt
Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen
Animation
Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen
Buch
Hannes Vartiainen, Pekka Veikkolainen
Ton
Joonatan Portaankorva
What is your emergency? Mit der Frage, die stets am Anfang des Telefonats mit einer Notfallzentrale steht, beginnt auch dieser Film. Auf der Tonspur aufgeregte, manchmal verzweifelte Menschen. Notfälle: eine Sturzgeburt, eine Massenkarambolage. Aber auch ein Amoklauf und der letzte Funkspruch der„Estonia“. Der Anruf markiert die Grenze zwischen Leben und Tod, die – vielleicht – überschritten wird. Das hängt auch von denen ab, die ihn entgegennehmen: hier verkörpert von weißen Gestalten, bar jeglicher Status generierender Symbole wie Kleidung oder sogar Haare. Reduziert auf den nackten, puren Menschen, auf den es ankommt. Oder sind es die Erinnyen, die unser Schicksal in den Händen halten?
Es gibt kein Blut, keine Katastrophenbilder. Stattdessen NASA-Aufnahmen der Erde aus dem All, Wolken, Lichtspiele, Radaranzeigen, pointiert verfremdet. Was ist die Not eines Menschen angesichts der Unendlichkeit des Universums? – Alles, sagt dieser Film, der sich wie alle Werke des Regieduos Vartiainen/Veikkolainen jeder Kategorisierung entzieht. Er erinnert an den Konjunktiv, der unser gesichertes Leben als Möglichkeit des Worst Case durchzieht. Ein Menetekel, das leise über uns schwebt. Hätte. Könnte. What is your emergency?

Grit Lemke

Escort

Dokumentarfilm
Niederlande
2013
19 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Zinzy Nimako, Jonne Roos
Regie
Guido Hendrikx
Musik
Lucas Malec
Kamera
Emo Weemhoff
Schnitt
Lot Rossmark
Buch
Guido Hendrikx
Ton
Tijn Hazen, Taco Drijfhout
Wie hebt man jemanden an, der gefesselt am Boden liegt? Wie trage ich ihn, wenn er sich wehrt? Wie fixiert man einen Körper? Wie bugsiert man ihn eine Gangway hoch? Was macht man, wenn er schreit? Und wie kriegt man es fertig, einen verzweifelten Menschen, der vielleicht eine Familie zurücklässt, abzuschieben in ein Land, wo ihn nichts als Unsicherheit, Armut oder Verfolgung erwartet? Mit diesen Fragen sehen sich junge Rekrutinnen und Rekruten der niederländischen Bundespolizei konfrontiert. Sie absolvieren eine Spezialausbildung darin, abgewiesene Asylbewerber auf ihren Abschiebeflügen zu begleiten.
Dicht und im Stil des Direct Cinema erzählt, gibt Guido Hendrikx komprimiert in wenigen Szenen Einblick in eine gängige, allerdings für die Öffentlichkeit meist unsichtbare Praxis. Ohne dezidiert zu emotionalisieren, gelingt es ihm dennoch, Erschütterung auszulösen. Denn auch wir können uns der Frage nicht entziehen: Was ist human? (Und uns bange weiterfragen, was wir tun würden, wenn im Flugzeug hinter uns ein „Escort“ mit seinem Passagier säße.)

Grit Lemke



Ausgezeichnet mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb für kurze Dokumentarfilme 2014

Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2013
Everyday Everyday Reem Karssli

Videotagebuch einer jungen Frau aus Syrien. Vor dem Krieg geflüchtet, ist sie mit ihrer Familie gefangen in einer Wohnung. Sensible Bestandsaufnahme und seltenes Dokument.

Everyday Everyday

Dokumentarfilm
Syrien
2013
26 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Maia Malas, Madalina Rosca
Regie
Reem Karssli
Kamera
Reem Karssli
Schnitt
Reem Karssli
Ton
Reem Karssli
Impressionen einer Wohnung, nur wenige Dinge werden mitgenommen. Eine Fahrt auf dem Rücksitz eines Autos. Dass es ein Außen gibt, ist nur zu erahnen. Ein Schatten auf dem Teppich, der zu einer anderen Wohnung gehört. Dieser Ort sei sicherer. Es gibt einen Balkon, über dessen Brüstung man besser nicht blicken sollte. In der Spiegelung der Fensterscheibe zeigt sich die Frau hinter der Kamera. Immer wieder sind Schüsse zu hören. Es heißt, ein Kiosk sei bombardiert worden. Nein, zwei. Es heißt, die Freie Syrische Armee baue eine Barriere vor dem Haus, das man mit der Vergangenheit, den Träumen und der Hoffnung zurücklassen musste. Mit „jedem Tag“ wachse die Angst. Jeder wisse, dass Syrien frei sei, frei bleibe und keine Diktatur akzeptieren werde, tönt es aus dem Fernseher.
Reem Karssli gelingt mit ihrem Videotagebuch das sensible Porträt einer Familie, deren Mitglieder „jeden Tag“ auf ihre ganz individuelle Art und Weise mit der Realität umgehen müssen, die „noch harscher, noch hässlicher“ sei als das, was eine Kamera einfangen könne. Ein seltenes Dokument, das durch seine extreme Unmittelbarkeit besticht und wohl nur durch ein Wunder diese Wohnung verlassen konnte.

Claudia Lehmann
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2014
Metaphor or Sadness Inside Out Catarina Vasconcelos

Leerstellen in einer Familie und einem Land, die Spuren einer Mutter und der portugiesischen Nelkenrevolution, in körnigen Bildern und Erinnerungen. Ein lyrisches Suchbild.

Metaphor or Sadness Inside Out

Dokumentarfilm
Portugal,
UK
2013
32 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Catarina Vasconcelos
Regie
Catarina Vasconcelos
Musik
Lucie Troger
Kamera
Catarina Vasconcelos
Schnitt
Catarina Vasconcelos
Buch
Catarina Vasconcelos
Ton
Mike Wyeld
Ein junger Mann schreibt seiner Schwester, der Filmemacherin, aus Lissabon nach London. Er gesteht ihr, dass er, neun Jahre nach dem Tod der Mutter, eine Leere in seinem Leben fühlt. Sie antwortet ihm mit einem Film, um jene Leerstelle zu füllen. Der Bruder beschreibt seine Sehnsucht nach einer Zeit, in der er noch gar nicht lebte, eine Vergangenheit, die verloren scheint. Es ist die Zeit der Mutter, die Zeit der Revolution in Portugal, die ein innerlich gebrochenes Land wieder mit sich vereinte. Das Gefühl der Freiheit ist heute für die Nachrevolutionsgeneration, mitten in der Eurokrise, schwer greifbar. Kann man sich in der Zeit rückwärts filmen?
Das körnige Super-8-Material schlägt eine Brücke ins Gestern. Die Kamera sucht Orte von drei Familiengenerationen auf, die sich nur noch halb anfühlen. Auch das Meer gehört dazu, von dem der Großvater einst sagte, es sei eine Metapher für die Welt. Immer wieder kommt der lyrische Wortwechsel zwischen Bruder und Schwester auf das Gefühl der Halbheit zurück. Auf der Bildebene wird nach der anderen Hälfte gesucht, durchaus mit einer feinen Ironie, die den melancholischen Grundton aufhebt. Eine Metapher bleibt schließlich eine Metapher. So entsteht ein selbstreflexives, poetisches Suchbild, in dem das Persönliche stets über sich hinausweist.
Lars Meyer

Mom

Dokumentarfilm
Russland
2013
28 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Lidiya Sheynina
Regie
Lidiya Sheynina
Kamera
Lidiya Sheynina
Schnitt
Lidiya Sheynina
Buch
Lidiya Sheynina
Ton
Lidiya Sheynina
Ruhig und doch unheimlich teilnahmsvoll hält Lidiya Sheynina die Kamera, oft aus leichter Untersicht, auf den Körper und das Gesicht ihrer Mutter. Diese hat über die Jahre die Physiognomie einer gemütlich sich abplagenden Schildkröte angenommen. Life is hard, die Wohnung eng, aber sie macht das Beste draus – und weiter, immer weiter. Seit Jahrzehnten kümmert sie sich um ihre greise Mutter, jene grauhaarige, anmutige Grande Dame dieses studentischen Kleinjuwel-Films, die mal rumturnt („Hampelmann“ im Rollstuhl), mal mit alten Freundinnen telefoniert (so sie nicht verstorben sind), mal Geschirr spült (auch Teflonpfannen, was sie nicht soll), meist aber einfach dasitzt und isst, oder trinkt, aus einer wunderbaren Tasse mit der Aufschrift „babushka“. Aus der Großmutter, die vergessen hat, wie alt sie ist („Was? 96? Kann nicht sein.“), dass sie seit 17 Jahren ohne Mann lebt („Wirklich?“) und seit 20 Jahren das Haus nicht mehr verlassen hat („Genau deshalb will ich ja wieder mal raus“), ist ein Kind geworden, aus der Tochter eine Mama. Das Radio berichtet von der wunderbaren Unabhängigkeit im Alter, das Leben spielt anders. Tagein, tagaus, zusammen. Und doch schunkelt Mama fröhlich zur Morgenmusik und blickt gemeinsam mit der ihren aus dem Fenster. Warten auf den Frühling. Es sind zärtliche Metaphern wie diese, die „Mama“, einen Film der kleinen Gesten, zu großem Kino machen.

Barbara Wurm



Lobende Erwähnung im Internationalen Wettbewerb für kurze Dokumentarfilme 2013

Notes on Blindness: Rainfall

Dokumentarfilm
Australien,
UK
2013
4 Minuten
Untertitel: 
keine

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Produktion
Peter Middleton
Regie
Peter Middleton, James Spinney
Musik
James Ewers, Michael Murray
Kamera
Gerry Floyd
Ton
Justine Angus
Regen verändert die Wahrnehmung des Raumes. Er gibt uns ein Koordinatensystem aus spezifischen Klängen, in dem wir uns selbst verorten und erfahren können. Der Regen half John Hull, als er sein Augenlicht verlor, sich die Welt mit anderen Sinnen neu zu erschließen. 1983 begann er, seine Selbstbeobachtungen auf Kassette aufzuzeichnen. Seine Originalaufnahmen stehen im Zentrum des Films, der dem Zuschauer zugleich einen neuen optischen Erfahrungsraum eröffnet. Präzise inszenierte Bilder verschieben die Wahrnehmungsgrenze von der Außen- in die Innenwelt, vom physikalischen Raum in den der Erinnerung und der Vorstellung – ein poetisches Experiment. „Rainfall“ ist der erste Teil einer Serie, basierend auf John Hulls akustischem Tagebuch.

Lars Meyer

Of God and Dogs

Dokumentarfilm
Syrien
2013
11 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Abounaddara Collective
Regie
Abounaddara Collective
Kamera
Abounaddara Collective
Schnitt
Abounaddara Collective
Das Gesicht und die Stimme eines jungen syrischen Kämpfers. Die linke Hälfte seines Antlitzes in tiefem Schatten. Zu hören: eine Erzählung, immer noch glühend von der Erinnerung an eine Vernehmung, zu der er als Verhörspezialist hinzugezogen wurde. Die Worte und Sätze kommen zögernd und gewichtig. Der erste Satz, den er trocken und klar spricht, nachdem er sich rauchend, mit geneigtem Kopf und geschlossenen Augen gesammelt hat: „Ich habe getötet.“ Der Mann, den er am Ende des Verhörs erschoss, war unschuldig, davon ist er überzeugt. Die zehn Männer aber, die dem Verhör beiwohnten, hatten den Verdächtigen schon vorverurteilt, wollten ihren Befund nur legitimiert sehen. Was ein gewöhnlicher Arbeitseinsatz für den jungen Mann hätte sein sollen, wird binnen weniger langer Minuten zur Bewährungsprobe seines Menschseins, und er empfindet, dass er versagt hat. Von diesem Versagen handelt „Of God and Dogs“ und schwingt sich zum großen filmischen Requiem auf: unversöhnt, meisterlich, verzweifelt.
Ralph Eue
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2014
Presence Hossein Rasti

Das schiitische Aschura-Trauerritual als säkulare Massenverköstigung: Hektoliter von Suppe werden gekocht und virtuos an 5.000 Gläubige verteilt. Mutige Miniatur.

Presence

Dokumentarfilm
Iran
2013
18 Minuten
Untertitel: 
_ohne Dialog / Untertitel

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Produktion
Hossein Rasti
Regie
Hossein Rasti
Kamera
Hossein Rasti
Schnitt
Hossein Rasti
Ton
Mosoud Asadi
Männer, die sich geißeln, bis Blut fließt, ekstatisches Wehklagen und eine der Trauer hingegebene Masse … An Aschura gedenkt die Schia jährlich der Ermordung des dritten Imam in der Schlacht von Kerbela. Die martialischen Bilder der Prozession bestimmen unsere Vorstellung von einer Religion, deren Geschichte und aktuelle Gegenwart von Repression und Leiden geprägt sind.
Auch Hossein Rasti beginnt mit diesem Ritual und schafft doch eine überraschende Wendung, indem er dessen säkulare Seite ins Visier nimmt. Hier wird gekocht und gegessen. In einer flugs zur heiligen Stätte umgebauten Mehrzweckhalle verköstigen Heerscharen von Köchen 5.000 Gläubige mit einer traditionellen Lammsuppe. Von den Tränen der Klagenden geht der Schnitt zu jenen des Mannes, der Berge von Zwiebeln schneiden muss. In riesigen, brodelnden Töpfen (sollte es eine Hölle geben, muss sie so aussehen) werden Hektoliter von Suppe gekocht, die in Windeseile auf Tellern verteilt und virtuos vor die aufgereiht sitzenden Gläubigen geschleudert werden. Ebenso routiniert erfolgt der geordnete Rückzug.
Das Blut, das Fleisch und das Brot – archaische Symbole, in einer gekonnten Montage ihrer religiösen Aura entkleidet, ohne dass diese beschädigt würde. Die kraftvolle (und mutige) Miniatur zeigt, dass sich Glaubensgemeinschaft auch irdisch definieren lässt.
Grit Lemke

Rougarouing

Dokumentarfilm
USA
2013
11 Minuten
Untertitel: 
keine

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Produktion
Michael Palmieri, Donal Mosher, Patrick Bresnan, Ivete Lucas
Regie
Michael Palmieri, Donal Mosher
Kamera
Michael Palmieri
Schnitt
Michael Palmieri
Ton
Donal Mosher, Michael Palmieri
Rougarous sind koboldhafte Fabelwesen, oft in Gestalt von Werwölfen, die ihre Heimat im US-amerikanischen Louisiana haben und fester Bestandteil der Cajun-Folklore sind. Wie Vampire zu bestimmter Nachtzeit ihre Auferstehung feiern, so finden sich als Rougarous verkleidete Zeitgenossen zu bestimmter Jahreszeit für ausschweifende Besessenheits- und Verwandlungsrituale zusammen. Der Brockhaus hält offensichtlich nicht viel von diesen Wesen, zumindest spricht aus der Beschreibung eine distanzierte Geringschätzung: „Der Rougarou hat verfaulte Zähne, wurmstichige Haut und blutunterlaufene Augen. Sein Aussehen erinnert nach seiner Verwandlung stark an einen Untoten.“ Ganz anders Michael Palmieris und Donal Moshers teilnehmende Beobachtung dieser amerikanischen Spielart der Extrem-Fastnacht. Mittels hyperaktiver Kamera- und Montage-Strategie wird der Zuschauer ungeschützt hineingeworfen in diese rituelle Schlammschlacht, die das Rougarouring nun mal ist. Eine Warnung zum Schluss: Wer (vielleicht ein wenig verängstigt) einen Notausgang aus diesem elfminütigen wüsten Treiben sucht, der sucht vergeblich.

Ralph Eue
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2013
Sirs and Misters Olexandr Techynskyy

Jährlich pilgern Chassiden aus aller Welt in das ukrainische Städtchen Uman – für die Einheimischen eine willkommene Geldquelle. Das Feilschen beginnt … Detailreiche Sozialstudie.

Sirs and Misters

Dokumentarfilm
Ukraine
2013
35 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Yulia Serdyukova
Regie
Olexandr Techynskyy
Kamera
Olexandr Techynskyy, Oleksiy Solodunov
Schnitt
Marina Maykovskaya
Buch
Olexandr Techynskyy, Yulia Serdyukova
Ton
Oleg Golovoshkin
Uman ist eine Stadt in der Ukraine, die weniger als 90.000 Einwohner zählt. Einmal im Jahr versammeln sich hier Menschen aus dem ganzen Land. Sie spielen Karten, rauchen und warten … Handelt es sich um einen Umschlagplatz für Hi-Fi-Geräte oder für Zelte? Vielleicht für beides. Jedenfalls beginnt mit der Anfahrt des ersten Reisebusses aus Israel für viele Ukrainer das Geschäft des Jahres, wenn nämlich die jüdischen Pilger zum Grab des Rabbi Nachman reisen, um dort den traditionellen Neujahrstag Rosch ha-Schana feierlich zu begehen. Gepäckstücke werden – natürlich gegen Geld – verschleppt, Behausungen werden verkauft, man handelt und feilscht. Selten hat ein Film das Geschäftemachen mit so viel Liebe zum Detail eingefangen. Dem regen Treiben zwischen den Kulturen und Religionen darf man hier aus einer ganz besonderen Perspektive beiwohnen, mit der die Aufmerksamkeit auf die Ränder des eigentlichen Spektakels gelenkt wird. Absurderweise scheint hier – trotz harter Verhandlungen – alles so zu laufen, wie man es sich andernorts und zu anderen Zeiten gewünscht hätte und wünschen würde. „Mister God knows what he’s doing …“

Claudia Lehmann
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2013
The Love Agency Martina Carlstedt

Eine Partnervermittlung in Archangelsk, ein paar einsame Herzen mit hohen Ansprüchen und ein Abend mit viel Cognac, Puschkin und Augenaufschlag. So geht’s – Dating ohne Internet!

The Love Agency

Dokumentarfilm
Schweden
2013
27 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Martina Carlstedt
Regie
Martina Carlstedt
Musik
Eirik Røland, Olle Markensten
Kamera
Martina Carlstedt
Schnitt
Alexandra Litén
Ton
Johan Embring
In Zeiten, da selbst der KGB wieder auf Schreibmaschine umsattelt, kann man sich in Fragen der Liebe erst recht nicht aufs Internet verlassen. In Archangelsk jedenfalls, unweit des nördlichen Polarkreises, regelt man die Dinge noch analog und mithilfe eines Hefters voller Fotos. Da kommt rein, wer vorher in der Heiratsvermittlung (oder ist es wirklich eine Liebesagentur?) „Jevgenia“ zu Protokoll gab, wonach das Herz begehrt. Woraufhin Svetlana zum Hörer greift – alles Chefsache! – und beherzt zusammenführt, was sich im Leben nicht fand.
Was dann freilich passiert, kann so oder so ausgehen. Etwa wie bei Anna, die ehrlich über ihr Leben spricht, während sich Alexey nur für Fleisch und Soße interessiert. Oder aber als veritabler Coup de foudre wie bei Svetlana und ihrem Vladimir, aus dem im Verlauf des mit reichlich Cognac und russischer Poesie getränkten Abends erst Volodya und schließlich Volodichka wird. Amors Pfeile schießen wie stählerne Geschosse durch die Bar, und wie die Schminke auf den Gesichtern der vom Leben gebeutelten alten Mädchen ist alles immer ein bisschen zu viel, zu süß, zu fett. Ist das unecht? Aber wer weiß schon, was echte Liebe ist?
Wieder gelingt Martina Carlstedt in der nur ihr eigenen Art dokumentarischer Inszenierung ein Kabinettstück, eine melancholische Etüde über die Einsamkeit – auch wenn Svetlana und Vladimir am Ende dieses Abends ganz sicher heiraten wollen.

Grit Lemke
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2014
The Predicate and the Poppy Jeanne Paturle, Cécile Rousset

Der Alltag junger Lehrer in einer Pariser Banlieue: Anarchie und Chaos, Big Bang und tanzende Zahlen, wild animiert. Fröhliche Reflexion über eine Misere.

2013

The Predicate and the Poppy

Animadok
Frankreich
2013
24 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Valérianne Boué, Luc Camili
Regie
Jeanne Paturle, Cécile Rousset
Musik
Thomas Dappelo
Schnitt
Mélanie Braux
Animation
Jeanne Paturle, Cécile Rousset
Buch
Jeanne Paturle, Cécile Rousset
Ton
Manuel Vidal
Wenn Ritter aufmarschieren, unbekannte Flugobjekte durch die Luft schwirren und sich der Raum plötzlich in ein undurchdringliches Labyrinth verwandelt, dann befinden wir uns im Klassenzimmer einer ganz gewöhnlichen Schule am Stadtrand von Paris. So in etwa erleben fünf junge Lehrer die erste Zeit ihres Arbeitsantritts. Und da Worte kaum auszudrücken vermögen, „was so abgeht“ an einer Schule, greifen Jeanne Paturle und Cécile Rousset auf das reiche Arsenal an Animationsfilmtechniken zurück, um diese Mischung aus Verzweiflung, Anarchie und Chaos in Bilder zu übersetzen. Mittels Fotocollage, Flachbildanimation, Knetfigurentechnik und klassischem Zeichentrick entsteigen historische Persönlichkeiten den Geschichtsbüchern, lässt sich der Big Bang rekonstruieren und beginnen Zahlen zu tanzen. Der Film explodiert förmlich! Aber er will mehr und vor allem nicht über die Bildungsmisere lamentieren. Nur, wenn der Lehrer selbst zum Lernenden wird, indem er das Alphabet der Straße und die Klaviatur eines jedes einzelnen Schülers kapiert, kann sich der Albtraum Schule vielleicht in einen Freiraum verwandeln.
Cornelia Klauß
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2013
Vegas Lukasz Konopa

Die glitzernde Kapitale des amerikanischen Traums bleibt ferne Kulisse: Hier sprechen die Verlierer. Ruhige Erzählung vom Alltag an den Rändern einer abwesenden Stadt.

Vegas

Dokumentarfilm
UK
2013
24 Minuten
Untertitel: 
keine

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Produktion
Lukasz Konopa
Regie
Lukasz Konopa
Musik
Sarah Warne
Kamera
Paweł Chorzępa
Schnitt
Paulo Pandolpho
Buch
Lukasz Konopa
Ton
Nikola Medic
Hartnäckig verteidigt Las Vegas seinen Mythos als Hauptstadt des Entertainments und der Superlative. Wo, wenn nicht hier, kann man das schnelle Geld oder eine steile Karriere ins Firmament des Showgeschäfts machen? Jährlich strömen Millionen Glückssucher hierher. Die einen starren auf die Bewegungen ihrer Jetons, andere hoffen auf ein Engagement in einem der Vergnügungstempel oder wenigstens irgendeinen Job. Dennoch wird niemanden die Nachricht überraschen, dass es in dieser Stadt des schönen Scheins auch eine ganze Menge Verlierer gibt. Und erst recht, seitdem in diese Oase mitten in der Nevada-Wüste die Rezession Einzug hält. Der aus Polen stammende und in England lebende Regisseur Lukasz Konopa hat dafür bezeichnende Bilder, Protagonisten und Situationen gefunden, die über Las Vegas hinaus für den zerbrechenden amerikanischen Traum stehen. An die Stelle eines Auftritts im Caesars Palace tritt das Altenheim mit seinen schwerhörigen Insassen, welche die Gesangseinlage des Jungstars wenig würdigen. Häuser werden versiegelt, weil ihre Bewohner zahlungsunfähig sind. Kanalrohre bieten neue Behausungen. Im Gegensatz zu der lauten, glitzernden und fiebrigen Metropole, die nur wie eine ferne künstliche Kulisse wirkt, setzt Konopa die ruhige Erzählung des Alltags an den Rändern der Stadt. Den Verlierern gehört das Wort. Ihnen gibt er im Film den Platz, den sie in Las Vegas nicht gefunden haben, vielleicht auch nie hätten finden können. So entsteht das Porträt einer Stadt, die abwesend ist und sich im flackernden Neonlicht irgendwo am Horizont verliert.

Cornelia Klauß
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2014
Victory Day Alina Rudnitskaya

Schwule und Lesben erzählen vom Leben unter Putins Anti-Homosexuellen-Gesetz, während draußen die Parade aufmarschiert … Beklemmendes Gleichnis von Siegern und Besiegten.

Victory Day

Dokumentarfilm
Russland
2013
29 Minuten
Untertitel: 
englische

Credits DOK Leipzig Logo

Produktion
Sergey Vinokurov, Alina Rudnitskaya
Regie
Alina Rudnitskaya
Kamera
Fedor Bakulin
Schnitt
Alina Rudnitskaya
Buch
Sergey Vinokurov
Ton
Alexsey Antonov
„Nur in Russland ist es denkbar, dass der Präsident jenes Jahr, in dem er seine Scheidung einreicht, zum ‚Jahr der Familie‘ erklärt.“ Während unten auf den Straßen Sankt Petersburgs das Fahnenmeer der Siegesparade verdeutlicht, wie sehr mittlerweile Russisch-Nationales, Kommunistisches und Orthodoxes verschmolzen sind im Land der ideologischen Extreme, sitzen lesbische und schwule Paare zu Hause auf ihren Sofas. Hinter geschlossenen Fenstern und jenseits der neuen Öffentlichkeit, die nunmehr rein zu halten ist von „Perversen“. Sie erzählen, wie sie sich kennengelernt haben und wie Eltern und Umgebung mit ihrem Bekenntnis zur Homosexualität umgehen. Im TV läuft eine Talkshow, ein Biedermann hält das im Juni 2013 verabschiedete Anti-Homosexuellen-Gesetz für zu harmlos: „Solchen muss man das Spenden von Blut und Sperma verbieten, und im Fall eines Autounfalls sollte man ihre Herzen in der Erde vergraben oder verbrennen, als ungeeignet für die Fortsetzung jedweden Lebens.“ Er erntet minutenlangen Applaus.
Das Schöne an diesem Film ist die Normalität dieser Lieben und Liebenden, die Selbstverständlichkeit ihrer Ansichten und Haltungen. Und doch hat sich – spätestens gegen Ende, in der fulminanten Schlussmontage – eine Schicht der Verzweiflung über ihre klugen Gesichter gelegt. Nach Juden und Queers, sagt einer, fehle jetzt eigentlich nur noch ein Gesetz über Hexen. Willkommen im Mittelalter, willkommen im Russland von heute.
Barbara Wurm
Int. Wettbewerb Kurze Dokfilme 2013
When I Am a Bird Monika Pawluczuk

Eine Kayan-Frau aus Myanmar, den Hals in schwere Metallreifen gepresst, gefangen in Traditionen und dem Schicksal als Flüchtling. Erzählung voller Trauer, Kraft und Magie.

When I Am a Bird

Dokumentarfilm
Polen
2013
30 Minuten
Untertitel: 
englische

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Produktion
Katarzyna Ślesicka
Regie
Monika Pawluczuk
Kamera
Paweł Chorzępa
Schnitt
Marcin Latanik
Buch
Monika Pawluczuk
Ton
Dariusz Wancerz
Als kleiner Vogel möchte sie in einem anderen Leben zurückkehren, klein genug, um sich verstecken zu können. Noch lebt sie wie im Vogelkäfig, den Launen des Schicksals ausgeliefert, das sie und ihre Familie aus Myanmar nach Thailand in ein Flüchtlingsdorf im Dschungel verschlagen hat. Unaufhörlich prasselt der Regen auf die Hütte. Der reißende Strom vor dem Haus ist so groß wie die unterdrückten Gefühle der Frau, die in ihrem Leben zwölf Kinder geboren und einige verloren hat. Ihren Mann hat sie sich nicht ausgesucht, überdies fliegt er ihr zuweilen davon. Jetzt hofft sie nur noch darauf, dass ihre Tochter nachkommt. Die Versuche, Telefonkontakt aufzunehmen und Nachrichten über das Radio zu empfangen, scheitern oft an der schlechten Verbindung. Von außen gesehen erscheinen die Menschen des Kayan-Volkes, insbesondere die Frauen mit ihrem schweren Halsschmuck, wie seltene, vom Aussterben bedrohte Exemplare, die man in touristischen Schaudörfern bewundern kann. Doch der Film offenbart eine Welt, die kein Tourist jemals zu Gesicht bekommt. Mit einer klaren Bildsprache, die ebenso atmosphärisch wie symbolisch ist, tastet er sich behutsam an die innere Wirklichkeit der Protagonistin heran, ohne eine Deutungshoheit zu beanspruchen. Wer kann schon in die Seele eines Menschen schauen? Und doch werden die Kraft, der Mut und auch die Magie, die es in diesem Leben braucht, spürbar.

Lars Meyer